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Eine friedliche Oase - und auf der anderen Straßenseite: staubige Lehmruinen. Kein Baum, kein Haus steht sonst mehr am Aliabad im Westen Kabuls. In einem unerbittlichen Kampf um die Hauptstadt löschten die Kriegsherren ab 1992 das Leben des quirligen Viertels mit Granatwerfern, Raketen und Panzerfäusten aus - hier kämpften mongolischstämmige Schiiten gegen die Regierungsmilizen.
Irgendwie hat die Uni Kabul diesen tödlichen Angriff überlebt, äußerlich schwer verwundet und doch als ein Ort ungebrochen stolzen Geistes.
Langsam schreitet eine Gruppe von Studenten in der Morgensonne durch die Allee. Die jungen Frauen haben die Burka lässig nach hinten über den Kopf geworfen und zeigen ihre schönen Gesichter, die sie mit Kajal und Wimperntusche geschminkt haben, die Lippen rot. Dies wagen sie fast nur hier auf dem Campus, sonst nur selten in dieser kriegszerstörten Stadt, wo auch drei Monate nach der Vertreibung der Taliban kaum eine Frau ohne den alles verhüllenden Schleier auf die Straße geht.
Rückkehr aus dem Mittelalter
Vor den Hörsälen halten die Studentinnen links die Schreibhefte im Arm, rechts tragen sie eine Plastiktüte in der Hand, darauf ein Werbeaufdruck der Zigarettenmarke "Pine" - "the Burka-bag", kichern sie. Darin verstaut liegt das blaue Gewand. Die Mädchen nehmen es erst wieder am Tor heraus - wenn sie hinaus ins öffentliche Leben treten.
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Doch die Erinnerung an die Diktatur der Fundamentalisten ist noch frisch. Von den Taliban sprechen die Studierenden und Professoren wie von Aliens, die ihnen, obgleich Afghanen wie sie, fremd und unnahbar geblieben sind wie Wesen von einem anderen Stern.
"Wie albern wir ausgesehen haben, alle mit Turban, Pluderhose und knielangem Hemd, und alle trugen einen langen Bart", sagt Golam Rasoul, 24, Student der Tiermedizin, der seine Haartracht heute kurz geschorenen trägt, dazu ein ganz normales westliches Hemd mit passender Hose.
Wer sich der Kleiderordnung damals widersetzte oder nicht in die Moschee ging, den haben die Glaubensfanatiker hart bestraft. Jeden Sonntag, pünktlich elf Uhr, ließen die Taliban ein halbes Dutzend dieser Studenten auf dem Platz vor der Medizinischen Fakultät antreten und schlugen vor den Augen ihrer Kommilitonen mit Kabeln auf sie ein - je 20-mal auf Rücken und Schultern.
Zerbombte Hörsäle und Labors
"Die Intellektuellen haben den Islam verlassen - die Antworten auf alle Fragen finden sich nicht in den Büchern der Wissenschaft, sondern in dem einzigen wahren Buch, dem Koran", zürnte Rasouls 25-jähriger Talib-Lehrer in der täglichen, 90 Minuten langen Indoktrinationsvorlesung über "Islamische Kultur". Er kam von einer Madrasse in Pakistan, einer Koran-Schule, wo auch er streng erzogen worden war.
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Die Bibliothek war bereits am Anfang des Bürgerkriegs nach einem Raketenangriff ausgebrannt. Von ehemals 200.000 Büchern wurden nur 40.000 gerettet - die meisten sind auf dem wissenschaftlichen Stand der sechziger Jahre. Hörsäle und Labors sind zerbombt, die Fenster, die Heizungen und die Wasserleitungen kaputtgeschossen. Tische und Stühle liegen unter aschgrauen Müllbergen.
Und mittendrin hat das Uni-Leben einen neuen Anfang gefunden. Im Februar kehrte der neue Rektor der Universität Kabul, Mohammed Akbar Popal, 54, aus dem pakistanischen Exil zurück. Brille, Bart, blauer Anzug - auf den ersten Blick keine auffällige Erscheinung. Auf den zweiten: einer, der schaffen kann.
Popal, der seine akademischen Weihen unter anderem auf der Amerikanischen Universität in Beirut und an der US-Universität von Nebraska errang, weiß, wer er ist, und vor allem, was er will: der Welt die Trümmer seines Hauses vorführen und es mit ihrer Hilfe schnellstmöglich wieder aufbauen. Die Uni Kabul soll bald wieder zu den bedeutendsten Bildungsstätten zwischen Teheran und Neu-Delhi gehören.
Hilfe aus Deutschland
Wer in Popals Büro will, muss Zeit mitbringen, die er den wartenden Gästen mit grünem Tee, Rosinen und Mandeln versüßt. Ausländische Besucher stehen Schlange, um dabei zu sein, wenn sich Kabuls Lehrstätte wieder aus dem Staub erhebt.
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Auch die Deutschen sind dabei: Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit wird voraussichtlich ein Kriminologisches Institut einrichten, die Konrad-Adenauer-Stiftung plant ein Institut für Politische Forschung, das Aufträge auch an die fünf weiteren Hochschulen des Landes in Herat, Jalalabad, Kandahar, Masar-i-Scharif und in der Provinz Parwan vergibt, inklusive Stipendien für das Ausland.
Auch private Investoren dienen sich beflissen der Kabul-Universität an: Sie wollen hier Einfluss auf die Köpfe gewinnen - Popal ist der Verwalter der Zukunft. Der Professor für Agrarwissenschaft füllt den Raum mit seiner rauchigen Bass-Stimme, die eine Unterbrechung seines Vortrags nicht duldet. Er sitzt eingeklemmt zwischen Aktenbergen und einem bunten Seidenblumen-Bouquet, hinter seinem Rücken an der Wand, in arabischer Schrift kunstvoll gefertigt wie eine Kalligrafie, eine Übersicht der Universitätsstruktur, wie sie einmal war.
"Ich bin der arme Verwandte, ausgeraubt und abgebrannt", wirbt Popal um internationale Unterstützung, wo immer er sie kriegen kann. "Die Intellektuellen der Welt sind doch eine große Familie - lässt man sein eigen Fleisch und Blut hängen?"
Lesen Sie im zweiten Teil:
NEUE FREIHEIT AN DER UNIVERSITÄT KABUL
Auferstanden aus Ruinen (2)
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Zurück zum 1. Teil
Ein einziges Telefon gebe es in der Universität - das in seinem Büro. Der Leiter des Studentenwohnheims fährt einen uralten klapprigen VW. Wenn er damit einen schwer Verletzten ins Krankenhaus bringen müsse, sei der Mann bei Ankunft bereits tot, beschreibt Popal dramatisch die Lage.
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Vor kurzem kamen die neuen Studenten. Überall im Land hatten Abgesandte der Universität Zulassungstests schreiben lassen. Aus 20 000 Bewerbern, davon 7000 Mädchen, wählten sie die 5000 Besten aus.
Immerhin: Wenn die Versorgung auch primitiv ist, sind Ausbildung, Unterkunft und Verpflegung kostenlos. Die angehenden Akademiker schlafen in Sechs-Bett-Zimmern in eisernen Stockbetten. Dreimal täglich gibt es Essen, vegetarisch, weil Fleisch zu teuer ist.
Vor allem will Rektor Popal das Knowhow zurückgewinnen, das seine Universität einmal besessen hat. Für 120 Euro im Monat, dem höchsten Professoren-Gehalt, das er bezahlen kann, wird er kaum gute Leute finden. Um den "brain drain", die Flucht der besten Wissenschaftler nach Amerika, Australien und Europa in den achtziger und neunziger Jahren, umzukehren, versucht er, im Ausland afghanische Intellektuelle als Gastdozenten zu gewinnen.
Wird sich das Land wirklich öffnen?
Die erste Reise führte ihn nach Berlin. Dort zeigten sich die Kollegen, auf die er bei einem Meeting des Deutschen Akademischen Austauschdienstes traf, jedoch skeptisch: Ein afghanischer Informatiker wollte wissen, wie die technischen Möglichkeiten der Vernetzung in der alten Heimat sind, ein Geologe fragte nach dem Angebot, das ihn bei seiner Feldforschung erwartet. Popal mochte die Lage nicht schönreden: "Komfortable Bedingungen kann ich nicht bieten - und darauf zu warten, hat Afghanistan keine Zeit."
Selbst der afghanische Minister für Hochschulbildung, Sharif Faez, 56, war über seine Ernennung zuerst nicht glücklich. Inzwischen kämpft Faez, der 1979 nach der sowjetischen Invasion geflohen war und sich längst im US-Staat Arizona als Literatur-Professor etabliert hatte, für seine Visionen: "Ich will sehen, wie dieses Land aus seinen Ruinen aufersteht, die Isolation durchbricht und ein Mitglied der Internationalen Gemeinschaft wird."
Er wartet auf den 10. Juni, den Termin der Loya Jirga, der Versammlung von Stammesältesten, Minderheiten-Vertretern und Intellektuellen, die Afghanistans neue Übergangsregierung wählt. Dort wird sich zeigen, ob sich das Land wirklich öffnen wird - oder ob die dunklen Kräfte der Kriegstreiber triumphieren und alles wieder im Chaos versinkt.
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Stürzt der Interimspremier Hamid Karzai und stürzen mit ihm die übrigen liberalen Kräfte, will auch der Hochschulminister Faez aufgeben und in die USA zurückkehren.
Was aber wird dann aus all den Frauen, die so stark auf den Einfluss der westlichen Kräfte hoffen? Noch immer wirken hier starke Traditionen, selbst wenn die Taliban längst fort sind - zum Beispiel das Recht der Väter, Brüder und Gatten, über die Frauen zu bestimmen.
"Du sollst die Letzte sein, die die Burka ablegt", sagt Abdul Sabor, 30, ein Computerfachmann, zu seiner Frau Frozan Assadi, 27, eine Sprachstudentin. Er sagt dies liebevoll und voller Besorgnis - er sagt es ihr jeden Tag. Angeblich fürchtet er Säureanschläge auf das süße Antlitz seiner Frau, wie sie der extremistische Kriegsfürst Gulbuddin Hekmatjar in den Siebzigern verübte, um die Frauen unter den Schleier zu zwingen. Frozan muss sich beugen: "Ich hasse es, die Burka zu tragen, doch zwingt er mich."
Die Frauen dürfen nicht ins Ausland
Eine Ehe bedeute hier für die Frauen noch immer das Ende der Selbstbestimmung, kritisiert Asma Azizi, 32, eine Deutsch-Dozentin, die es in den späten achtziger Jahren für ein halbes Jahr zu einer Fortbildung nach Brandenburg in die DDR schaffte. Die Internationale Gemeinschaft offeriere nun zwar zahlreiche Auslandsstipendien, gerade für Professorinnen und Studentinnen - nur lasse sie keiner gehen. Die Männer verweigerten die Genehmigung, angeblich aus Furcht, die Frauen könnten dort in der Fremde in Sünde fallen.
Inzwischen hat sich an der Universität Kabul eine kämpferische Frauenvereinigung gebildet. Theoretisch sei die Gleichberechtigung auf dem Campus zwar hergestellt, sagt Asma Azizi. Frauen würden nach Leistung beurteilt und könnten auch in alle Positionen einrücken. Doch verfügten die Männer über die entscheidenden Kontakte sowohl intern als auch international. Das, meint Azizi, müsse ganz schnell anders werden.
Wer Frauen kennt wie Frozan Assadi und Asma Azizi, versteht die Ängste der afghanischen Männer, womöglich bald die Kontrolle zu verlieren - so viel Mut, so viel Kraft, so viel Hunger auf die Welt da draußen dürfte, einmal losgelassen, schwer wieder zu bändigen sein.
Und was würde beim Scheitern der liberalen Reformer aus Golam Rasoul, dem Tiermedizinstudenten, der seit wenigen Monaten erstmals im Leben eine Perspektive gefunden hat? Eigentlich wollte er Journalist werden. Doch der Vater sagte: "Dies hier ist eine Kriegszone, du wärst immer an der Front und bald tot." Dann wollte Rasoul Jura studieren. Und der Vater sagte: "Die Taliban kennen kein Recht, deshalb kannst du es auch nicht studieren."
So wird er Veterinär. Als ein Dozent aus den USA vergangenen Monat ein Gastseminar hielt und Ziegen, Hühner und eine Kuh kaufte, die sie gemeinsam töteten und erforschten, wurde Rasouls Begeisterung plötzlich geweckt: "Das ist eine 180-Grad-Wende. Wenn ihr Ausländer bleibt, kann alles gut werden."
So sucht hier jeder seine Chance in einer Zeit der Hoffnung, die währen kann oder schon morgen vorbei ist. Ein gutes Leben wünschten doch alle, mahnt Rektor Popal und erklärt auch, was dies sei: "Wenn ich nicht mehr der arme Verwandte bin, ausgeraubt und abgebrannt, sondern jemand, der dem Bruder aufhilft."
SUSANNE KOELBL