Afghanistan und der Loya Djirga
Afghanistan vor der Loya Djirga
06.06.2002 | Deutscher Welle |
Am Montag (10.6.) tritt in Afghanistan die Loya Djirga zusammen, die Stammesversammlung, das Land zur Demokratie führen soll. Ein Hintergrund über die Loya Djirga von DW-WORLD.
Nach den Petersberger Verhandlungen im Dezember 2001 einigten sich die afghanischen Vertreter auf die Einberufung einer Loya Djirga, mit deren Hilfe ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gefördert und Afghanistan in eine demokratische Zukunft geführt werden sollte.
Zunächst wurde mit dem offiziellen Übergang der politischen Macht in der Hauptstadt Kabul am 22. Dezember eine erste Interimsverwaltung eingesetzt. Sie besteht aus einer Interimsregierung, einem Obersten Gerichtshof und einer unabhängigen Sonderkommission für die Einberufung einer außerordentlichen Loya Djirga - eben jene Versammlung, die jetzt zusammentreten wird.
Ein gerechter Proporz als Maxime
Die 21-köpfige Loya-Djirga-Sonderkommission erarbeitete dann in enger Abstimmung mit der UN-Behörde vor Ort Kriterien für die Zusammensetzung der Stammesverwaltung. Demnach sollen 70 Prozent der Delegierten gewählt und 30 Prozent ohne Wahl bestimmt werden. Das Ergebnis wird am Montag (10.6.) zu sehen sein: Dann kommen die insgesamt rund 1500 Delegierten aus den 32 Provinzen des Landes in Kabul zusammen, um die Weichen für den Aufbau einer demokratischen pluralistischen Gesellschaft in Afghanistan zu stellen.
Um sicherzustellen, dass die Loya Djirga wenigstens annähernd die komplizierte Bevölkerungszusammensetzung des Vielvölkerstaates repräsentiert, orientierte sich das Auswahlverfahren hauptsächlich am Kriterium der Bevölkerungsdichte. Deshalb etwa kommen 116 Delegierte aus der Provinz Kabul und nur 15 aus der Provinz Logar. Zudem wurde dafür gesorgt, dass die afghanischen Frauen in der patriarchalisch strukturierten Gesellschaft nicht an den Rand des politischen Geschehens gedrängt werden: Insgesamt 160 weibliche Delegierte aus verschiedenen Sparten der Gesellschaft nehmen gleichberechtigt an der Versammlung teil. Allein unter den 100 Delegierten, die die im Ausland lebenden afghanischen Flüchtlinge vertreten, befinden sich 25 Frauen.
Gesorgt wurde auch dafür, dass die religiösen Minderheiten der Sikhs und Hindus mit jeweils zwei Delegierten vertreten sind. Weitere Beispiele sind die Interessengruppe der Blinden und die Berufsgruppe der Journalisten, die jeweils fünf Delegierte entsenden.
Vorbereitung auf die eigentliche Loya Djirga
Nicht übersehen werden darf dabei, dass die Einberufung der jetzigen, außerordentlichen Loya Djirga und ihre Tagung vom 10. bis zum 16. Juni nur vorbereitenden Charakter hat. Der Weg ist noch lang und ziemlich kompliziert: Das Gremium soll über die Zusammensetzung einer provisorischen Regierung beraten und darüber hinaus eine Art Übergangsparlament mit 120 Abgeordneten wählen. In enger Zusammenarbeit mit diesem Parlament soll dann die provisorische Regierung eine Verfassung erarbeiten und damit die Weichen für die Einberufung der eigentlichen Loya Djirga, 18 Monate später, stellen.
Parlament und Übergangsregierung amtieren also nur vorübergehend. Erst die danach zu etablierende eigentliche Loya Djirga soll gemäß der Petersberg-Vereinbarung endgültig das Schicksal Afghanistans bestimmen. Details dieser Regierungsform bleiben zu klären.
Auf schwierigem Terrain
Die bewaffnete Austragung von Machtkämpfen auch in jüngster Zeit verdeutlicht allerdings, dass der Weg zum Aufbau einer Zivilgesellschaft in Afghanistan steinig bleiben dürfte. Dennoch herrscht allgemein die Hoffnung, dass die Völker am Hindukusch einen modus vivendi finden werden. Dies sieht übrigens auch die deutsche Bundesregierung so: Sie hat die Vorbereitungen zur Loya Djirga über die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) aktiv unterstützt und trägt von geschätzten 6 Millionen Euro Gesamtkosten einen beachtlichen Anteil von 2,7 Millionen Euro.
Das ist ein abgekartetes Spiel»
Afghanistan Loya Jirga durch heimliche Absprachen ihres eigentlichen Sinnes beraubt
13.06.2002 | Aargauer Zeitung |
Am zweiten Tag der Loya Jirga hätte Hamid Karsai zum Vorsitzenden der afghanischen Übergangsregierung gewählt werden sollen. Doch seine Wahl verzögerte sich, weil Manipulationsvorwürfe laut wurden.
Zahlreiche Delegierte nutzten die Gelegenheit, um ihrer Wut und ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck zu geben, wie - zumindest aus ihrer Sicht - die Loya Jirga durch heimliche Absprachen manipuliert wurde. Safar Mohammed, ein Abgeordneter im traditionellen afghanischen Gewand, mit einem kunstvoll geschlungenen braunen Turban und einem weissen Bart, trat ans Mikrofon. «Im Namen Gottes», begann er seinen Diskussionsbeitrag und fuhr dann fort: «Es sind so viele Kommandanten hier. Ist dies ein militärisches Treffen, oder ist es tatsächlich eine Loya Jirga?»
Seine Frage brachte Safar Mohammed rauschenden Applaus ein. Ein Redner nach dem anderen stellte die Frage nach der Echtheit dieses Anlasses. Selbst Seema Samar, Ministerin für Frauenfragen in der vor einem halben Jahr eingesetzten interimistischen Verwaltung, wurde mit den Worten zitiert: «Das hier hat nichts mit Demokratie zu tun, sondern dies ist ein abgekartetes Spiel.» Die Mächtigen hätten bereits vor dem Beginn der Loya Jirga alles abgesprochen, fand die Frauenministerin.
Und einmal mehr entstand der Eindruck, als werde Afghanistan fremdbestimmt. Dieser Eindruck mag falsch sein. Ein amerikanischer Fauxpas ist aber für sein Aufkommen mitverantwortlich: Einige Delegierte fanden es doch eher seltsam, wie der amerikanische Botschafter eine halbe Stunde, bevor Exkönig Zahir Shah den Verzicht auf das Amt des Staatspräsidenten öffentlich machte, die «freudige Botschaft» in Kabul bereits als Tatsache verbreitete.
Auch wenn einige Delegierte Karsai als «amerikanische Marionette» sehen, so war es nicht so, dass eine grundsätzlich Abneigung gegen ihn bestand. Was die kritischen Abgeordneten störte, war vielmehr der Umstand, wie die Loya Jirga durch heimliche Abmachungen ihres eigentlichen Sinns beraubt wurde. Die Loya Jirga sollte nämlich dazu dienen, die vorgelegten Fragen in aller Offenheit zu diskutieren, Argumente dafür und dagegen anzuhören und schliesslich, gestützt auf diese Diskussionen, einen fairen Entscheid zu treffen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die kritischen Delegierten bei der Zusammensetzung der Regierungsmannschaft jenen Gruppen einen Denkzettel verpassen werden, welche sie für diese Manipulation verantwortlich machen. Und in diesem Zusammenhang wird häufig die Nordallianz genannt.
Ein Schlaglicht auf das angespannte Klima warf auch ein Zwischenfall mit deutschen Soldaten der Sicherheitstruppe Isaf. Sie wollten nach Angaben der Bundeswehr Kämpfer der Privatarmee des prominenten afghanischen Politikers Ahmad Wali Massud entwaffnen und sahen plötzlich deren Gewehrläufe auf sich gerichtet. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem aber kein Schuss gefallen sei. Die Kämpfer seien schliesslich der Polizei übergeben worden.
Kabul: Demokraten in Lebensgefahr
07.06.2002 | Financial Times Deutschland |
Ab Montag wählen Volksvertreter in Kabul eine neue Regierung für Afghanistan - wenn sie vorher nicht von den Warlords umgebracht werden.
Seine Kandidatur zur Loya Dschirga hatte sich Rafik Schahir anders vorgestellt. Auf der Großen Ratsversammlung, die am kommenden Montag in Kabul beginnt, wollte er gemeinsam mit den anderen Delegierten eigentlich eine neue Regierung für Afghanistan wählen. Statt in der Hauptstadt landete der Vorsitzende des "Rats der Experten" - einer der größten zivilgesellschaftlichen Gruppierungen des Landes - in Herat. Im Gefängnis. Sein Vergehen: Er war zu erfolgreich.
Nur wenige Stunden nach dem ersten Wahlgang zum Delegiertenkongress hatte der in Herat regierende Warlord Ismail Khan seine Schergen geschickt. Er ließ alle sieben Kandidaten der demokratischen Parteien, die sich bei der Abstimmung durchgesetzt hatten, verhaften. Die Männer sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Laut Uno zogen die meisten ihre Kandidatur allerdings zurück. Sie waren massiv bedroht worden.
Willkommen im neuen, alten Afghanistan. Ende vergangenen Jahres hatten sich die Stammesführer auf der Petersberger Konferenz auf ein von der Uno moderiertes Verfahren geeinigt, das binnen zweieinhalb Jahren zur Demokratie führen soll. Das Problem ist nur: Sanktionsmöglichkeiten, um Regelverstöße zu ahnden, existieren nicht. "Was wir bei Gewaltandrohung und Bestechung machen können, hat höchstens einen psychologischen Effekt", klagt der Vorsitzende der Vorbereitungskommission für die Loya Dschirga, Ismail Kasimjar. Hinzu kommt, dass der Krieg der US-geführten Anti-Terror-Koalition gegen die Überbleibsel der Taliban den Prozess der Staatsbildung erheblich behindert.
Glück im Unglück
Rafik Schahir hatte noch Glück im Unglück. Weil der Demokrat landesweit bekannt ist, setzten sich der Uno-Afghanistan-Beauftragte, Lakhdar Brahimi, und Übergangspremier Hamid Karsai persönlich für seine Freilassung ein. Andere haben ihr Engagement und ihre Hoffnung auf ein neues, demokratischeres Afghanistan hingegen mit dem Leben bezahlt. Die Uno weiß von acht Morden an gewählten Delegierten, die den lokalen Machthabern zu gefährlich wurden.
Die Interimsregierung von Hamid Karsai schaut dem Treiben hilflos zu. Die politische Macht in den Provinzen geht nicht von Kabul aus, sie liegt in den Händen der Kriegsherren. "Ich kann nicht behaupten, dass wir jeden Teil des Landes unter Kontrolle haben", gibt Außenminister Abdullah Abdullah zu.
Absurderweise können sich viele Warlords nur an der Macht halten, weil die USA sie unterstützt. Während die Uno und ihre Mitgliedsstaaten viel Zeit und Geld in die politische Großveranstaltung Loya Dschirga investieren, versucht die Regierung in Washington, einzelne Kriegsherren im Anti-Terror-Krieg für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dabei entfalten die Stammesführer zumeist ein Eigenleben.
Aufgeklärter Despot
Ismail Khan etwa, der vor der Taliban-Zeit in Herat großes Ansehen als aufgeklärter Despot genoss. Washington sieht in ihm ein Bollwerk gegen den Einfluss der Mullahs im benachbarten Iran. Khan war der einzige Warlord, dem Donald Rumsfeld im April einen Besuch abstattete. Der US-Verteidigungsminister lobte den Afghanen nach dem zweistündigen Gespräch als "sehr interessanten und tiefsinnigen Mann".
Eine Einschätzung, die die Bevölkerung längst nicht mehr teilt. Der Aachener Politologe Rangin Dadfar-Spanta, der aus Herat stammt, hält Khan für einen Islamisten und erkennt inhaltlich "keinen großen Unterschied" zwischen ihm und den Taliban.
Im Norden des Landes ist die Lage kaum besser. In Masar-i-Scharif hat sich der berüchtigte Warlord Abdul Raschid Dostum selbst zum Loya-Dschirga-Delegierten ausgerufen - entgegen allen von der Uno aufgestellten Qualifikationsvorschriften: Seine weithin bekannten Kriegsverbrechen wären ein klares K.-o.-Kriterium für die Teilnahme. Auch dürfen Delegierte eigentlich kein Regierungsamt innehaben und sollten einen Hochschulabschluss vorweisen können. Dostum ist stellvertretender Verteidigungsminister und hat wohl nie eine Schule von innen gesehen.
Geld aus Washington
Aber er ist mächtig. Der Großteil seines militärischen Einflusses beruht auf Geldflüssen aus Washington. Weil er sich mehr für Frauen und Alkohol als für Dschihad und Gebete interessiert, ist er für die USA einer der wenigen des Islamismus unverdächtigen Machtfaktoren im Land. Wie Ismail Khan akzeptiert Dostum formell die Autorität der Regierung in Kabul - solange sie den eigenen Interessen nicht im Wege steht. Hin und wieder liefert er sich deshalb mit den Truppen seines Vorgesetzten, Verteidigungsminister Mohammed Kasim Fahim, kleinere Scharmützel.
"Was soll man machen?", fragt Außenminister Abdullah. "Wir müssen mit den Leuten zusammenarbeiten, die heute in den verschiedenen Teilen des Landes an der Macht sind." Erst kürzlich rangen er und Innenminister Junus Kanuni den beiden Warlords die Zusage ab, dass sie auf der Ratsversammlung Hamid Karsai als Staatschef unterstützen. Abdullah will verhindern, dass Leute wie Dostum "in Zukunft eine Rolle spielen". Der Preis dafür wird hoch sein.
Beschwerde bei der UNO
Die Missachtung der Uno-Richtlinien durch die Warlords ist nicht das einzige Problem beim Neuaufbau des Landes. Bisher ist es nur begrenzt gelungen, die paschtunischen Stämme im Süden und Südosten in den demokratischen Prozess einzubinden. Erst kürzlich legte der Paschtunenführer Mohammed Schah Zadran formell Beschwerde bei der Uno ein. Er findet, dass der Zuschnitt der Wahlbezirke die Paschtunen benachteiligt. Bei der Volksgruppe wächst der Eindruck, dass sie gegenüber der tadschikisch dominierten Nordallianz bei der Regierungsbildung zu kurz kommt.
Viele Paschtunen, die zumindest ethnisch der Taliban-Bewegung nahe standen, lehnen Karsai als Staatschef ab. Sie betrachten ihn als eine Marionette der USA. Zugleich können sich die einzelnen Stämme nicht auf gemeinsame Kandidaten einigen. Einzige Integrationsfigur wäre der paschtunische Exkönig Sahir Schah. Eine Wiedereinführung der Monarchie hat in Afghanistan indes zu viele Gegner. Zudem würde sie das politische Gleichgewicht in der Region bedrohen, denn das benachbarte Iran fürchtet jegliche Art von monarchistischer Tendenz.
Die latente Unzufriedenheit der Paschtunen ist die derzeit größte Gefahr für das Land. Beobachter fürchten, dass der Unmut sogar zu einem Wiedererstarken der Taliban führen könnte. Viele seien in paschtunischen Regionen untergetaucht.
Von einer breiten Legitimität für die neue Regierung ist Afghanistan noch weit entfernt.
Deutsche schützen Präsidentenkür in Kabul |
07.06.2002 | Hamburger Abendblatt |
Nach der Loya Jirga könnte der Präsident Karsai heißen Populärer Interims-Regierungschef will in Kabul für Spitzenamt kandidieren / Isaf-Truppe warnt vor Anschlägen |
07.06.2002 | Frankfurter Rundschau |
Der afghanische Übergangsregierungschef Hamid Karsai will Präsident Afghanistans werden. Karsai kündigte am Donnerstag in Kabul an, in der nächsten Woche bei der Ratsversammlung Loya Jirga für das Präsidentenamt zu kandidieren. Derweil fürchtet die internationale Schutztruppe Isaf Terroranschläge auf die Versammlung.
Die Loya Jirga wird am kommenden Montag von Ex-König Sahir Schah eröffnet und soll eine neue Regierung wählen, die bis zu Parlamentswahlen im Jahr 2004 im Amt bleiben soll. Karsai hat sich als Interims-Regierungschef das Vertrauen der Bevölkerung und des Westens erworben. Am Donnerstag erklärte er: "Im Moment sieht es so aus, und wenn ich von der Loya Jirga gefragt und nominiert werde, werde ich akzeptieren." Der 44-Jährige gehört der größten afghanischen Volksgruppe der Paschtunen an und war im Dezember entsprechend den Beschlüssen der Afghanistan-Konferenz von Bonn Übergangsregierungschef geworden.
Anders als die meisten Minister in seiner von der tadschikischen und usbekischen Nordallianz beherrschten Regierung hat Karsai nicht den Rückhalt einer Miliz. Doch sowohl die USA als auch die EU und die UN setzen auf ihn. "Karsai wird die wichtigste politische Figur der Zukunft", so der Afghanistan-Beauftragte der EU, Klaus-Peter Klaiber. Am Donnerstag erklärte auch Außenminister Abdullah Abdullah, seine zur Nordallianz gehörende Dschamiat-Fraktion werde auf der traditionellen Stammesversammlung Loya Jirga für Karsai stimmen. Derzeit halten es Beobachter für am wahrscheinlichsten, dass die Loya Jirga als Ausgleich zu einem paschtunischen Präsidenten Karsai einen Tadschiken für das Amt des Regierungschefs bestimmen wird.
Nach UN-Angaben haben die Stämme und Volksgruppen 1501 Vertreter in die Loya Jirga gewählt. 100 Sitze sind Frauen vorbehalten, weitere 100 für Flüchtlinge. Auch andere Gruppen wie etwa Intellektuelle, Ärzte oder Geschäftsleute wurden mit zugesicherten Sitzen bedacht.
Derweil wächst mit dem Näherrücken der Versammlung die Nervosität bei den Sicherheitskräften. Kürzlich warnte Isaf-Oberbefehlshaber John McColl vor wachsender Terror-Gefahr. Isaf-Sprecherin Helen Wildman sagte, in Afghanistan gebe es eine mit der derzeitigen Entwicklung "unzufriedene Minderheit", die es auf die Versammlung abgesehen haben könnte.
Verantwortlich für die Vorbereitungen für die Zusammenkunft sind die deutschen Isaf-Soldaten. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem die Errichtung eines 70 mal 40 Meter großen Versammlungszelts, das zuletzt beim Oktoberfest in München im Einsatz war. Isaf-Sprecherin Wildman beurteilt den für die Loya Jirga gewählten Ort skeptisch: Der Fußballplatz des Polytechnikums in Kabul sei "unter Sicherheitsaspekten denkbar ungünstig".
Für die Delegierten ist das Tragen von Waffen im inneren Umkreis der Versammlung verboten. Allein im inneren Bereich sind etwa 600 Soldaten für die Sicherheit zuständig. Rundherum sind weitere tausend Isaf-Soldaten postiert. In ganz Kabul soll es ferner zahlreiche Beobachterposten und verstärkte Patrouillengänge geben. Doch trotz aller Vorkehrungen nennen manche Isaf-Offiziere die Sicherheitslage einen "wahren Albtraum".
Es werden gewählt |
1051 |
Eigenschaften |
Sitze insgesamt |
Davon für Frauen |
Mitglieder der Interimsregierung (Mitglieder der Interimsregierung, der Kommission für die Einberufung der Loya Jirga, der Oberste Richter,usw.) |
53 |
5 |
Geistliche |
6 |
0 |
Intellektuelle, bekannte Persönlichkeiten |
20 |
10 |
NGOs ( soziale, kulturelle, wirtschaftl., religiöse Minderheiten) |
51 |
12 |
Instituten ( wissenschaftl. berufsbildende) |
39 |
6 |
Nomaden |
25 |
0 |
Exilanten, Flüchtlinge (aus Pakistan) (aus dem Iran) (aus anderen Ländern) |
100 (40) (30) (30) |
25 |
Binnenland- Flüchtlinge |
6 |
2 |
Frauen |
100 |
100 |
Kandidaten insgesamt |
1450 |
160 |
Kabul: Demokraten in Lebensgefahr
07.06.2002 | Financial Times Deutschland |
Ab Montag wählen Volksvertreter in Kabul eine neue Regierung für Afghanistan - wenn sie vorher nicht von den Warlords umgebracht werden.
Seine Kandidatur zur Loya Dschirga hatte sich Rafik Schahir anders vorgestellt. Auf der Großen Ratsversammlung, die am kommenden Montag in Kabul beginnt, wollte er gemeinsam mit den anderen Delegierten eigentlich eine neue Regierung für Afghanistan wählen. Statt in der Hauptstadt landete der Vorsitzende des "Rats der Experten" - einer der größten zivilgesellschaftlichen Gruppierungen des Landes - in Herat. Im Gefängnis. Sein Vergehen: Er war zu erfolgreich.
Nur wenige Stunden nach dem ersten Wahlgang zum Delegiertenkongress hatte der in Herat regierende Warlord Ismail Khan seine Schergen geschickt. Er ließ alle sieben Kandidaten der demokratischen Parteien, die sich bei der Abstimmung durchgesetzt hatten, verhaften. Die Männer sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Laut Uno zogen die meisten ihre Kandidatur allerdings zurück. Sie waren massiv bedroht worden.
Willkommen im neuen, alten Afghanistan. Ende vergangenen Jahres hatten sich die Stammesführer auf der Petersberger Konferenz auf ein von der Uno moderiertes Verfahren geeinigt, das binnen zweieinhalb Jahren zur Demokratie führen soll. Das Problem ist nur: Sanktionsmöglichkeiten, um Regelverstöße zu ahnden, existieren nicht. "Was wir bei Gewaltandrohung und Bestechung machen können, hat höchstens einen psychologischen Effekt", klagt der Vorsitzende der Vorbereitungskommission für die Loya Dschirga, Ismail Kasimjar. Hinzu kommt, dass der Krieg der US-geführten Anti-Terror-Koalition gegen die Überbleibsel der Taliban den Prozess der Staatsbildung erheblich behindert.
Glück im Unglück
Rafik Schahir hatte noch Glück im Unglück. Weil der Demokrat landesweit bekannt ist, setzten sich der Uno-Afghanistan-Beauftragte, Lakhdar Brahimi, und Übergangspremier Hamid Karsai persönlich für seine Freilassung ein. Andere haben ihr Engagement und ihre Hoffnung auf ein neues, demokratischeres Afghanistan hingegen mit dem Leben bezahlt. Die Uno weiß von acht Morden an gewählten Delegierten, die den lokalen Machthabern zu gefährlich wurden.
Die Interimsregierung von Hamid Karsai schaut dem Treiben hilflos zu. Die politische Macht in den Provinzen geht nicht von Kabul aus, sie liegt in den Händen der Kriegsherren. "Ich kann nicht behaupten, dass wir jeden Teil des Landes unter Kontrolle haben", gibt Außenminister Abdullah Abdullah zu.
Absurderweise können sich viele Warlords nur an der Macht halten, weil die USA sie unterstützt. Während die Uno und ihre Mitgliedsstaaten viel Zeit und Geld in die politische Großveranstaltung Loya Dschirga investieren, versucht die Regierung in Washington, einzelne Kriegsherren im Anti-Terror-Krieg für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dabei entfalten die Stammesführer zumeist ein Eigenleben.
Aufgeklärter Despot
Ismail Khan etwa, der vor der Taliban-Zeit in Herat großes Ansehen als aufgeklärter Despot genoss. Washington sieht in ihm ein Bollwerk gegen den Einfluss der Mullahs im benachbarten Iran. Khan war der einzige Warlord, dem Donald Rumsfeld im April einen Besuch abstattete. Der US-Verteidigungsminister lobte den Afghanen nach dem zweistündigen Gespräch als "sehr interessanten und tiefsinnigen Mann".
Eine Einschätzung, die die Bevölkerung längst nicht mehr teilt. Der Aachener Politologe Rangin Dadfar-Spanta, der aus Herat stammt, hält Khan für einen Islamisten und erkennt inhaltlich "keinen großen Unterschied" zwischen ihm und den Taliban.
Im Norden des Landes ist die Lage kaum besser. In Masar-i-Scharif hat sich der berüchtigte Warlord Abdul Raschid Dostum selbst zum Loya-Dschirga-Delegierten ausgerufen - entgegen allen von der Uno aufgestellten Qualifikationsvorschriften: Seine weithin bekannten Kriegsverbrechen wären ein klares K.-o.-Kriterium für die Teilnahme. Auch dürfen Delegierte eigentlich kein Regierungsamt innehaben und sollten einen Hochschulabschluss vorweisen können. Dostum ist stellvertretender Verteidigungsminister und hat wohl nie eine Schule von innen gesehen.
Geld aus Washington
Aber er ist mächtig. Der Großteil seines militärischen Einflusses beruht auf Geldflüssen aus Washington. Weil er sich mehr für Frauen und Alkohol als für Dschihad und Gebete interessiert, ist er für die USA einer der wenigen des Islamismus unverdächtigen Machtfaktoren im Land. Wie Ismail Khan akzeptiert Dostum formell die Autorität der Regierung in Kabul - solange sie den eigenen Interessen nicht im Wege steht. Hin und wieder liefert er sich deshalb mit den Truppen seines Vorgesetzten, Verteidigungsminister Mohammed Kasim Fahim, kleinere Scharmützel.
"Was soll man machen?", fragt Außenminister Abdullah. "Wir müssen mit den Leuten zusammenarbeiten, die heute in den verschiedenen Teilen des Landes an der Macht sind." Erst kürzlich rangen er und Innenminister Junus Kanuni den beiden Warlords die Zusage ab, dass sie auf der Ratsversammlung Hamid Karsai als Staatschef unterstützen. Abdullah will verhindern, dass Leute wie Dostum "in Zukunft eine Rolle spielen". Der Preis dafür wird hoch sein.
Beschwerde bei der UNO
Die Missachtung der Uno-Richtlinien durch die Warlords ist nicht das einzige Problem beim Neuaufbau des Landes. Bisher ist es nur begrenzt gelungen, die paschtunischen Stämme im Süden und Südosten in den demokratischen Prozess einzubinden. Erst kürzlich legte der Paschtunenführer Mohammed Schah Zadran formell Beschwerde bei der Uno ein. Er findet, dass der Zuschnitt der Wahlbezirke die Paschtunen benachteiligt. Bei der Volksgruppe wächst der Eindruck, dass sie gegenüber der tadschikisch dominierten Nordallianz bei der Regierungsbildung zu kurz kommt.
Viele Paschtunen, die zumindest ethnisch der Taliban-Bewegung nahe standen, lehnen Karsai als Staatschef ab. Sie betrachten ihn als eine Marionette der USA. Zugleich können sich die einzelnen Stämme nicht auf gemeinsame Kandidaten einigen. Einzige Integrationsfigur wäre der paschtunische Exkönig Sahir Schah. Eine Wiedereinführung der Monarchie hat in Afghanistan indes zu viele Gegner. Zudem würde sie das politische Gleichgewicht in der Region bedrohen, denn das benachbarte Iran fürchtet jegliche Art von monarchistischer Tendenz.
Die latente Unzufriedenheit der Paschtunen ist die derzeit größte Gefahr für das Land. Beobachter fürchten, dass der Unmut sogar zu einem Wiedererstarken der Taliban führen könnte. Viele seien in paschtunischen Regionen untergetaucht.
Von einer breiten Legitimität für die neue Regierung ist Afghanistan noch weit entfernt.
Deutsche schützen Präsidentenkür in Kabul |
07.06.2002 | Hamburger Abendblatt |
Die afghanischen Honoratioren sollen nun selbst, ohne Einflußnahme von außen, entscheiden, in wessen Hände sie das Schicksal ihres Landes legen. Die jetzige Übergangsregierung, deren Mandat Ende Juni ausläuft, war im Dezember vergangenen Jahres auf der Bonner Konferenz ja praktisch unter Ausschluß der afghanischen Öffentlichkeit bestimmt worden. Gleichwohl dürfte der 44jährige Paschtune Hamid Karsai in seiner Führungsrolle bestätigt werden. Darauf deuten alle Zeichen hin. Hinter den Kulissen hat sich Karsai bereits die Unterstützung mächtiger Kriegsherrn und Gouverneure gesichert. Die Frage ist nur, ob der ehemalige Geschäftsmann in das Amt eines Staatspräsidenten gehievt wird oder Premier bleibt. Ex-König als Wahlhelfer Der aus dem italienischen Exil zurückgekehrte 87jährige Ex-König Zahir Schah, der die Loya Dschirga feierlich eröffnen soll, rührt, soweit es die Gesundheit erlaubt, die Werbetrommel für den Premier. Auch die UNO hat kein Hehl daraus gemacht, daß sie eindeutig Karsai den Vorzug gibt. Nach 23 Jahren Bürgerkrieg hofft Afghanistan auf einen demokratischen Aufbruch. Ganz mit rechten Dingen ist es freilich bei der Auswahl der Delegierten für die "große Ratsversammlung" nicht zugegangen. Schnell machten Gerüchte über Bestechung und Manipulation die Runde. Warlords verteilten demnach Dollarbündel und Kalaschnikows, um Wahlmänner ihre Vertrauens in die Loya Dschirga zu schmieren. Immerhin, meinen UN-Beobachter tröstend, die Kriegsherrn lehnen die Versammlung nicht rundweg ab, sondern versuchen auf ihre Weise mitzureden. Die Auswahl der Delegierten folgte einem "traditionellen Modus". Zunächst trafen sich die Dorfvorsteher in den 381 Bezirken Afghanistans und nominierten ohne formelle Abstimmung Elektoren. Diese Wahlmänner bestimmten dann, mehr oder minder frei und geheim, die Vertreter für das Treffen in Kabul. 1051 Delegierte wurden auf diese Weise gewählt. Die restlichen 450 Teilnehmerplätze wurden nach festen Quoten vergeben. So entsendet die derzeitige Übergangsregierung 53 Repräsentanten. Aus dem Heer der afghanischen Flüchtlinge werden 100 rekrutiert. Auch Auslands-Afghanen sind im Zelt vertreten; aus Österreich reist der gelernte Jurist und jetzige Maschinenschlosser Assif Sarabi an. Für die Frauen sind 160 Plätze reserviert; die Quotenregelung war bitter nötig, denn auf traditionellem Wege wurden nur ganz wenige Frauen in die Loya Dschirga gewählt. Ausnahme für Dostum Ursprünglich hieß es in der Regeln für die Loya Dschirga ferner, daß keine Kriegsverbrecher und keine Regierungsmitglieder zugelassen werden dürften. Ein doppelter Ausschließungsgrund für Raschid Dostum, Vize-Verteidigungsminister und Herrscher im nordafghanischen Mazar-i-Sharif. Doch für den gefürchteten Usbeken drückten die Organisatoren denn doch ein Auge zu. Man wollte sich nicht noch einen Gegner aufhalsen. Denn es gibt schon genug. Für die Zeit der Loya Dschirga herrscht in Kabul Alarmstufe rot. Die Angst vor Terroranschlägen geht um - vor einer Botschaft der abgehalfterten Taliban und der mit ihnen verbündeten al-Qaida-Kämpfer. Auch der fundamentalistische Mudschaheddin-Führer Gulbuddin Hekmatyar, der Zerstörer Kabuls, treibt angeblich wieder sein Unwesen in Afghanistan, seit er sein iranisches Exil verlassen hat. Acht Menschen sind bereits im Zusammenhang mit der bevorstehenden Loya Dschirga in den vergangenen Wochen ermordet worden. "Warlords müssen weg" Die neue Übergangsregierung, die nun von der Loya Dschirga gewählt wird, soll bis Ende 2003 im Amt bleiben. Wer Mitglied im Kabinett werden soll, darüber hüllt sich Karsai in Schweigen. Beobachter gehen jedoch davon aus, daß die jetzige Machtachse in Kabul im wesentlichen bestehen bleiben wird. Das heißt, das Übergewicht der Tadschiken, der Kämpfer der Nordallianz, wird vermutlich auf Kosten der paschtunischen Mehrheit erhalten bleiben. Die Loya Dschirga soll nur der Anfang eines demokratischen Prozesses sein. In zwei Jahren soll es erstmals freie Parlamentswahlen geben. Der Weg bis dorthin ist lang, das Haupthindernis bekannt. "Die Warlords müssen weg", verkündete Karsai jüngst. Doch noch gibt es keine funktionierende Nationalarmee in Afghanistan, und noch ist Karsai auf Kuhhändel mit den Kriegsherrn angewiesen.
Rina Amiri hat schon mit vielen ambitionierten Frauen aus Konfliktländern zusammengearbeitet. Doch die Afghaninnen, die von heute an in der Loja Dschirga die Zukunft des Landes mitbestimmen werden, hält die Mitarbeiterin der Vereinten Nationen (UN) für besonders „intelligent, redegewandt und willensstark". Nach 22 Jahren Bürgerkrieg und jahrelanger Taliban-Herrschaft, in denen sie aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden, haben sich schon jetzt viele Frauen ihren Platz in der afghanischen Gesellschaft zurückerobert. Und nun sitzen sogar 210 Frauen in der Loja Dschirga, der Großen Ratsversammlung – von insgesamt circa 1500 Mitgliedern. „14 Prozent Frauenanteil, das ist mehr als in manchen westlichen Parlamenten", sagt die nach Kabul zurückgekehrte Exil-Afghanin Amiri. Und erzählt, wie motiviert sie die Kandidatinnen für die Loja Dschirga erlebt hat. In Kandahar zum Beispiel traf sie eine Frau, die – islamische Männergesellschaft hin oder her – Wahlkampf machte für sich selbst. Die Lehrerin hatte während der Taliban-Herrschaft eine verbotene Schule unterhalten. Jetzt verteilte sie selbst gedruckte Prospekte, in denen sie für sich warb. Ein Sack Mehl für ein Mädchen Im Frühjahr war eine Frauenquote festgelegt worden. 160 Plätze, also elf Prozent der Sitze, wurden den Frauen garantiert. Mitbestimmung zu haben in dem Gremium, das eine neue Regierung wählen soll – das ist ein großer Fortschritt für die Frauen in dem islamischen Land, selbst wenn Frauenministerin Sima Samar gerne eine Quote von 25Prozent festgelegt hätte. Zusätzlich zu den 160 Plätzen wurden 50 Frauen direkt in die Loja Dschirga gewählt. Das war die eigentliche Überraschung, für Leute aus dem Westen jedenfalls. Für Rina Amiri oder Vizefrauenministerin Tagwar Kakar ist es nicht so ungewöhnlich, dass afghanische Männer auch für Frauen gestimmt haben. Wenn die Familie der Betreffenden einverstanden sei und die Frau eine angesehene Persönlichkeit im Dorf sei, werde sie auch von Männern gewählt, sagen sie. Zur Euphorie besteht allerdings kein Anlass. Ohne die Quote säßen nur die 50 direkt gewählten Frauen in der Loja Dschirga. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat jüngst beklagt, dass es noch viele Gesetze gebe, die die Afghaninnen diskriminierten. Zum Beispiel bekommen sie nur einen Ausweis, wenn ein Mahram, ein männliches Familienmitglied, das Antragsformular unterschreibt. Berichte von zehnjährigen Mädchen, die für einen Sack Mehl verkauft wurden, oder von zwangsverheirateten jungen Frauen, die ihren Männern davongelaufen sind, und nun deswegen jahrelang im Gefängnis sitzen, zeigen, wie wenig Frauen in Afghanistan manchmal wert sind. „Natürlich sind wir eine sehr konservative, sehr traditionelle Gesellschaft", sagt Rina Amiri. „Die Frauen müssen sich innerhalb dieser Parameter bewegen." An den beiden Tagen vor Beginn der Loja Dschirga haben sich die Frauenvertreterinnen bereits kennen gelernt. Zwei Tage lang besuchten sie Fortbildungskurse im Frauenministerium, wo sie unter anderem lernten, als Wahlblock gemeinsame Ziele zu formulieren. Schließlich hätten sie eine große Verantwortung, sagt Vizefrauenministerin Kakar: Das Los der Millionen Frauen im ärmsten Land der Welt zu verbessern. „Es hätte noch schlimmer kommen können" Karl Fischer, Stabschef der UN-Mission in Kabul, glaubt trotz fortdauernder Machtkämpfe an einen Erfolg der Ratsversammlung
Die Vereinten Nationen mit ihrem Sonderbeauftragten Lakhdar Brahimi unterstützen die politische Neuordnung in Afghanistan. Der Stabschef der UN-Mission in Kabul, der Berliner Karl Fischer, bewertet Chancen und Risiken für das Land. SZ: Im Vorfeld der Loja Dschirga wurden Delegierte ermordet, es gab Berichte über Drohungen und Einschüchterungen. Was macht Sie so optimistisch, dass die Große Stammesversammlung eine friedliche Phase einleiten wird? Fischer: Man muss doch sehen: Die Vorbereitungen zur Loja Dschirga hätten noch viel schlimmer verlaufen können. Der ganze Prozess war sehr mühsam, weil wir möglichst faire Bedingungen herstellen wollten. Die Verhältnisse sind aber militärisch, logistisch und politisch äußerst schwierig. Ich bin der Ansicht, dass die Vorbereitungen alles in allem erfolgreich waren. Die Afghanen haben bewiesen, dass sie die Fähigkeit zum Kompromiss und zur Verständigung haben. Das lässt uns hoffen, dass die Loja Dschirga auch von diesem Geist getragen wird. Natürlich sehen auch wir, dass im Kampf um die Macht sehr viele Mittel eingesetzt werden, aber das ist in vielen Ländern so. SZ: Ist zu befürchten, dass all jene Kräfte, die sich durch die Ergebnisse der Loja Dschirga benachteiligt fühlen, wieder zur Waffe greifen? Fischer: In Afghanistan ist nichts auszuschließen. Niemand kann vorhersagen, zu welchem Ergebnis die Loja Dschirga kommt. Natürlich werden nicht alle zufrieden sein. Wir wollen, dass die Bevölkerung zumindest eines erkennt: Hier ist ein Prozess im Gange, der in eine bessere Zukunft führt. SZ: Die Dominanz der ehemaligen Nordallianz ist in der jetzigen Übergangsregierung deutlich. Sehen Sie Signale, dass die drei tadschikischen Minister bereit sind, Macht abzugeben? Fischer: Es gibt verschiedene Signale. Die Kräfte im Land sind derzeit so vielfältig. Die Nordallianz ist in sich gespalten. Der Druck, dass die drei Minister aus dem Pandschir-Tal Macht abgeben, ist sehr groß. Das ist Thema von Verhandlungen, die längst im Gange sind. Ich erwarte, dass es da eine Verschiebung gibt. Der Sicherheitssektor wird wahrscheinlich nicht völlig in der Hand der Tadschiken bleiben. Die Lage ist aber ziemlich unberechenbar, auch weil regionale Führer wie der Usbeken-General Raschid Dostum oder der Gouverneur von Kandahar sich noch offen halten, wen sie unterstützen. SZ: Wie soll die Regierung in Kabul für Sicherheit in den Regionen sorgen, wenn sie gar keine Truppen hat und dort andere Kräfte das Sagen haben? Fischer: Das ist ein ganz zentraler Punkt, der auch den Sicherheitsrat beschäftigt. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht bereit ist, den Einsatz ihrer Soldaten auf Gebiete außerhalb Kabuls auszudehnen, dann muss sie zumindest schnell den Aufbau einer afghanischen Armee vorantreiben. Dafür müsste dann auch mehr Geld fließen. Der Aufbau der Armee muss einhergehen mit der Demobilisierung der etwa 200000 bewaffneten Kämpfer im Land. Damit das funktioniert, muss man den Menschen Alternativen bieten, neue Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. SZ: Kommt die internationale Hilfe für Afghanistan gut voran? Fischer: Ich muss leider sagen, das offenbar sehr viele Geber erst auf das Ergebnis der Loja Dschirga warten. Niemand will bei großer Unsicherheit investieren. Deshalb ist das Geld anfangs nicht so geflossen, wie wir gehofft haben. Das schafft jetzt Probleme. Es kommt dazu, dass die Zahl der rückkehrenden Flüchtlinge fast doppelt so hoch ist wie erwartet. Nach der Geber-Konferenz in Tokio gab es die Vorstellung, dass 1,2 Milliarden Dollar in diesem Jahr fließen. Bis zur letzten Woche sind aber erst etwa 100 Millionen eingegangen. Wenn wir für das zweite Halbjahr 500 Millionen Dollar hätten, würde das den größten Bedarf decken.
Mit der Loya Jirga könnten die Konflikte Afghanistans von der kriegerischen auf die politische Ebene verlagert werden. Ihr Scheitern könnte dazu führen, dass die verfeindeten ethnischen Gruppen dreiundzwanzig Jahren Brudermord nahtlos fortsetzen. Entscheidend ist, inwiefern die Afghanen die "Große Versammlung" als rechtmäßige Repräsentation des Volkes anerkennen. Wichtig wird auch sein, ob es bei der Neuverteilung der Macht gelingt, die Paschtunen stärker zu berücksichtigen. Denn obwohl sie 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind sie bislang unterrepräsentiert. Die kriegsmüden Afghanen hoffen, dass die Loya Jirga den Kämpfen zwischen den regionalen Feldherren ein Ende setzt. Auch immer mehr Frauen tun öffentlich ihre Meinung kund. "Wir hoffen, dass die Loya Jirga eine gute Regierung bringen wird", sagt Razia Wadan, Witwe, arbeitslos, und Mutter von drei Söhnen, "eine Regierung, die Afghanistan Sicherheit bringt und den Menschen Arbeit". Die 30-jährige Sharifa hätte selbst kandidiert, wenn sie nicht drei Kinder hätte. Zurzeit ist sie die älteste Schülerin in einer von einer europäischen Hilfsorganisation eingerichteten Mädchenschule in Kabul. Obwohl die "kleinen Leute" traditionell in Afghanistans Politik nichts zu sagen haben, verhalten sich die Menschen mittlerweile so, als ob sich das geändert hätte. In Massen traten sie zur Wahl der Delegierten für die Loya Jirga in ihren Dörfern an. Die Dorfräte stellten 1051 Abgeordnete. Weitere 450 Mitglieder wurden von Afghanen aus dem Ausland bestimmt, die Übergangsregierung benannte 53 Teilnehmer. Sogar die lokalen Kriegsfürsten sahen sich gezwungen, dem Ereignis auf ihre Art Bedeutung beizumessen. Das Ergebnis waren Bestechung und Wahlfälschung sowie die Ermordung einiger bereits gewählter Kandidaten. Sowohl die hohe Wahlbeteiligung als auch die Gewaltakte aber verdeutlichen eines: Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte Afghanistans zählt die Meinung der Bevölkerung etwas. "Es ist erstaunlich, welche Resonanz die Loya Jirga gefunden hat", sagt Jean Arnault, stellvertretender UN-Sondergesandter, "quer durch dieses sonst so zerrissene Land. Das ist die gute Nachricht." Die schlechte ist, dass die diversen Provinzfürsten weiterhin erbittert um ihren Anteil an der Macht kämpfen und die internationale Gemeinschaft in eine prekäre Lage bringen. Denn ihr politischer Einfluss schwindet und damit auch die Möglichkeit, den Frieden zu sichern. Zwar ist nach wie vor die internationale Schutztruppe ISAF in der Hauptstadt stationiert. Aber auf die Loya Jirga werden die Alliierten weniger Einfluss nehmen können als bei der Petersberger Konferenz im Dezember 2001 in Bonn. Damals wussten alle afghanischen Teilnehmer, dass dies womöglich ihre letzte Chance sein könnte, das Blutvergießen zu beenden. Entsprechend groß war ihr Verhandlungswille. Die Tadschiken der Nordallianz, nach den US-Bombardements im Besitz von Kabul, bestanden zwar darauf, die drei Top-Ministerien der neuen Regierung zu besetzen. Dafür ließen sie aber den (relativ machtlosen) Paschtunen Hamid Karsai Regierungschef werden. Inzwischen haben die Provinzfürsten ihre Claims abgesteckt und sind wild entschlossen, diese zu verteidigen. Die Tadschiken scheinen gewillt, weiter Karsai als Premierminister und sogar Ex-König Muhammad Zahir Schah in einer symbolischen Rolle zu akzeptieren. Aber sie wollen kein einziges ihrer regionalen Machtzentren aufgeben. Die frustrierten Paschtunen könnten deshalb wieder das Kriegsbeil ausgraben. Die internationale Gemeinschaft hat nur ein offensichtliches Ass im Ärmel: Geld. Bereits jetzt wird verlautbart, dass etliche der zugesagten Milliarden zurückgehalten werden könnten, wenn es der Loya Jirga nicht gelingt, dass in der künftigen Regierung alle Volksgruppen breiter repräsentiert sind.
Da den Vorbereitungen der traditionellen Stammesversammlung jedoch fast 30 Jahre der Gewalt vorausgegangen seien, sei der Ablauf "viel, viel besser" gewesen als erwartet, sagte Brahimi. Nach Angaben des Organisationskomitees wurde die Teilnehmerzahl kurzfristig um 50 auf 1551 erhöht. Die UN-Kommission habe selbst 33 Delegierte ernannt, da die Wahl in den Bezirken nicht fair abgelaufen sei, sagte UN-Sprecher Manoel de Almeida e Silva am Sonntag. In 21 der insgesamt 400 Distrikte habe es Unregelmäßigkeiten gegeben. Laut UNO wurden acht Menschen getötet, die sich für die Loja Dschirga aufstellen lassen wollten. Die Loja Dschirga soll am Montag vom ehemaligen afghanischen König Mohammed Sahir Schah eröffnet werden und voraussichtlich bis zum 16. Juni dauern. Die von den Delegierten zu wählende Regierung soll zwei Jahre amtieren. Dann sollen Wahlen stattfinden. Als Favorit für das Amt des Regierungschefs gilt der amtierende Ministerpräsident Hamid Karsai. Aber auch der Ex-König steht nach eigenen Angaben bereit, das Amt zu übernehmen. 5000 Polizisten und Soldaten sollen für die Sicherheit in Kabul sorgen. Die Internationale Schutztruppe für Afghanistan (ISAF) patrouillierte bereits am Wochenende verstärkt im Umkreis des Geländes, errichtete Straßensperren und nahm Personenkontrollen vor. Auf dem Gelände der Polytechnischen Hochschule in Kabul tagen die Delegierten in einem riesigen Zelt, das die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) aufgestellt hat. Aus Sicherheitsgründen dürfen die Teilnehmer während der Versammlung das Gelände nicht verlassen. Waffen werden am Tagungsort nicht geduldet.
Als vor ein paar Tagen in Kabul das Rattern von Luftabwehrgeschützen zu hören war, lautete die bange Frage: Ist das nun der Auftakt zur Sabotage der Loya Jirga? Tags darauf beruhigte ein Sprecher der Internationalen Sicherheitstruppe für Afghanistan (Isaf), dass bloss eine Einheit der im Aufbau begriffenen Armee mit ihrer neuen Munition herumgespielt habe. Trotzdem gab es keine Entwarnung durch die Schutztruppe, denn der deutsche General Carl Hubertus von Butler verfügt «über Informationen, dass diese Loya Jirga gestört werden soll». Der auf Montag angekündigte Beginn der Ausserordentlichen Grossen Ratsversammlung ist die erste wichtige innerafghanische Übung in Sachen Demokratie. General von Butler und seine aus Soldaten von 16 Nationen zusammengesetzte «Kabul Multinational Brigade» sind als Speerspitze der Isaf für die Sicherheit der Loya Jirga verantwortlich. Dazu stehen ihm die 5000 Mann der Isaf und ebenso viele afghanische Polizisten und Soldaten zur Verfügung. Der innere Kreis um das aus Deutschland hergeschaffte Tagungs- zelt, das ebenso am Münchner Oktoberfest stehen könnte, wird vom ersten Bataillon der afghanischen Nationalgarde geschützt. Die Loya Jirga soll ja soweit als möglich den Anschein erwecken, eine traditionelle Veranstaltung der Afghanen zu sein. Im weiteren Umkreis und auf den Hügeln sind ausländische Scharfschützen postiert, und Soldaten patrouillieren mit Schäferhunden und schwerem Gerät. Seit einem Monat wurden 16 Szenarien von Angriffen durchdacht, von Selbstmordattentaten, Autobomben bis zu Angriffen mit Katjuscha-Raketen. Der Schutz ist keine leichte Sache im Moloch von Kabul, wo der Verkehr orientalische Staus verursacht. Warlords im Tagungszelt Diese Machtballung der tadschikischen Minister aus dem Panjshir-Tal, die auch die Schaltstellen des Äusseren, des Inneren und des Geheimdienstes besetzen, ist ein Dorn im Auge anderer Ethnien, wie der Hazara und insbesondere der Paschtunen, die nun die Quittung für ihr Bündnis mit den Taliban bekommen. Wenn das Resultat der Loya Jirga nicht eine breitere ethnische Machtverteilung ist, so wird das Land nach Einschätzung eines altgedienten Afghanistan-Experten einen Schritt Richtung Bürgerkrieg statt zur Demokratie hin machen. Nur die USA könnten die Panjshiri zum Teilen der Macht veranlassen, heisst es in europäischen Diplomatenkreisen. Es gebe keine Anzeichen, dass die Amerikaner von ihrer «kurzsichtigen Optik der Ausrottung der Kaida» abweichen würden. Der greise König Falls die Ratsversammlung in langwierige Ränkespiele kippt, sollten sich die Abgeordneten ein Beispiel an der Loya Jirga von 1747 nehmen. Nach neun Tagen fruchtloser Debatten wählte man einen Mann zum König, der während der ganzen Zeit kein Wort gesprochen hatte. Ahmad Schah Durrani legte den Grundstein für den Staat Afghanistan und für die Paschtunen- Dynastie, die seinen Namen trägt. Mit König Zahir Schah wird ein Durrani am Montag die Loya Jirga eröffnen.
Gewiss, es ist schon ein Wunder, dass die Loya Jirga, die im Dezember auf der Bonner Afghanistan-Konferenz geplant wurde, überhaupt zusammentritt. In diesem halben Jahr hat sich Karsai als ein zwar geschickter und integrer Mann erwiesen, der in aller Welt das sympathische Gesicht Afghanistans repräsentierte. Aber seine Zentralregierung ist schwach und endet an den Stadtgrenzen von Kabul. Denn diejenigen, die in Afghanistan wirklich das Sagen haben, verweigern Karsai ihre Unterstützung: die mächtigen Kriegsherren. Sie sind das unsympathische Gesicht des Landes. Sie sind weder an Frieden noch an Demokratie interessiert. Die Kriegsherren sind heute stärker als beim Fall der Taliban. Das liegt an der US-Unterstützung. Die Amerikaner haben sogar neue Kriegsherren geschaffen haben. Dennoch sind es vor allem die drei größten „Warlords", welche die Schaffung eines Nationalstaats, sei er nun säkular oder islamisch, verhindern wollen. Da ist Ismail Khan, ein während des Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer hochgerühmter Mujaheddin-Führer, der sich mit iranischer Unterstützung im westlichen Herat ein Königreich geschnappt hat. Er schaltet und waltet mit eiserner Faust, betreibt den Wiederaufbau und war der erste, der Mädchen wieder in die Schulen ließ. Der zweite ist der Usbeken-General Abdul Rashid Dostum, der sein Reich im Norden um Mazar-e-Sharif und Shibergan hat. Sein Markenzeichen ist die Ruchlosigkeit und die Unzuverlässigkeit. Aber er ist der mächtigste. Und schließlich ist aus dem iranischen Exil wieder Gulbuddin Hekmatyar aufgetaucht, ein fanatischer Islamist und ehemals Hauptbegünstigter der amerikanischen und pakistanischen Hilfe im Stellvertreterkrieg gegen Moskau. Er macht mit Taliban und Osama Bin Ladens El Kaida gemeinsame Sache, deren Kader in den Städten Pakistans untergetaucht sind und deren Kämpfer in Kaschmir einen Krieg zwischen Pakistan und Indien zu provozieren suchen. Denn ihnen reicht nicht mehr Afghanistan, sie planen, auf einem zertrümmerten Pakistan ihren Gottesstaat aufzubauen und sie wollen an das pakistanische Atomarsenal heran. Es sind die Kriegsherren, die den Auswahlprozess für die Loya Jirga behindert haben, weil sie ihre Leute in der Versammlung sitzen haben wollen. Die wenigsten Delegierten sind frei gewählt worden. Am deutlichsten wird die Einflussnahme im Fall Dostum. Obwohl Kriegsherren ferngehalten werden sollen, hat er sich selbst zum Delegierten ernannt, „um die Interessen der usbekischen Minderheit zu wahren", wie er behauptet. Denn die ethnische Zersplitterung des Landes zerschneidet nach wie vor die Nation. Hier soll der vor kurzem nach 30-jährigem Exil heimgekehrte ehemalige König Zahir Schah eine einigende Rolle spielen. Obwohl er in seiner vierzigjährigen Regierungszeit bis 1973 wenig für den Fortschritt in seinem Land getan hat, wird der heute 87-Jährige hoch verehrt und könnte eine ausgleichende Rolle spielen. Seine wichtigste Aufgabe ist es freilich, die Wahl seines Gefolgsmanns Karsai zu sichern. Afghanistans größtes Problem ist es, dass es keine Sicherheit gibt. Einschüchterung und Willkür verhindern die Rückkehr zur Normalität. Nur Kabul ist eine Ausnahme. Aber da wachen eben 5000 Mann der internationalen Truppe Isaf. Für das übrige Land haben sie kein Mandat, und bis eine eigene afghanische Armee aufgebaut ist, wird noch so viel Zeit vergehen, dass bis dahin jede Chance auf Frieden vertan sein kann.
Kabul und die Welt hoffen das Beste. Und sie rechnen mit dem Schlimmsten, wenn am Montag in der afghanischen Hauptstadt rund 1500 Volksvertreter zur traditionellen Loja Dschirga zusammenkommen, um eine neue Regierung zu bestimmen. Die Hoffnungen richten sich auf die Zukunft: "Die Loja Dschirga ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Eigenverantwortung", sagt die deutsche Entwicklungsministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, "sie kann zur Geburtsstunde eines neuen Afghanistan werden." Die Befürchtungen betreffen die von der Vergangenheit geprägte Gegenwart: Allmächtige Stammesführer in den Provinzen und einflussreiche regionale Warlords torpedieren die Loja Dschirga. Sie hatten das Land schon vor den Taliban in ihrer Hand, jetzt sind sie zurück und herrschen mit Hilfe ihrer bewaffneten Banden. Sie bekämpfen sich gegenseitig. Und sie ermorden, erpressen, bestechen und schüchtern Bewerber für die Ratsversammlung ein, um ihre eigenen Kandidaten durchzusetzen. Wen wundert es da, dass die Internationale Schutztruppe für Afghanistan (Isaf), örtliche Sicherheitskräfte und die Polizei mit jedem Tag nervöser werden, den das Treffen näher rückt? Austragungsort ist "ideal für Angriffe" In erster Linie verantwortlich für die Vorbereitungen der Zusammenkunft sind die deutschen Isaf-Soldaten und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ). Die auf mehr als eine Million Euro geschätzten Kosten für die Logistik übernimmt die Bundesregierung. "Eine gigantische Aufgabe", so GTZ-Büroleiter Hessam Tabatabai in Kabul: Ein Versammlungszelt musste her, Technik, Unterkünfte und drei Mahlzeiten täglich für 1500 Delegierte. Soldaten der Bundeswehr haben das Gelände nach Minen durchkämmt, umzäunt, weiträumig abgesperrt. Der Zugang wird streng kontrolliert, Waffen sind verboten. Dennoch beurteilt Tabatabai den Austragungsort für das einwöchige Treffen skeptisch. Der Fußballplatz des Polytechnikums sei unter Sicherheitsaspekten ungünstig: "Umgeben von Hügeln und Bergen, ideal für Angriffe." Aber man habe alles Menschenmögliche getan, jeden Stein umgedreht. "Hoffen wir also, dass es gut geht." Es geht um viel. Um die Neuverteilung politischer Macht. Ja, um nicht mehr und nicht weniger als die Frage, was aus diesem Vielvölkerstaat am Hindukusch werden soll, dessen Bilanz der Schicksalsschläge sich so erschreckend liest. Seit über 20 Jahren befindet sich Afghanistan im Kriegszustand. Es ist das Land mit den meisten Flüchtlingen - eine Million sind inzwischen zurückgekehrt _ und dem am zweitstärksten verminten Staatsgebiet nach Angola. 90 Prozent der Einwohner haben keinen Zugang zu Trinkwasser, ganze Gebiete leiden unter Mangelernährung. 1998/99 wurde Afghanistan von drei Erdbeben heimgesucht. Die Lebenserwartung beträgt 44 Jahre, 38 Prozent der Jungen und nur drei Prozent der Mädchen gehen zur Schule. Ist dieses Land nun auf dem Weg in eine politisch stabile Zukunft? Ob Afghanistan eine föderale Verfassung nach deutschem Vorbild erhält, ob es einen starken Mann an der Spitze geben wird wie in Frankreich oder ein islamisch theokratisches System wie im Iran- "welchen Weg Afghanistan gehen wird, das wird davon abhängen, wer sich in den nächsten Tagen durchsetzen kann und welche Vertreter es in die Kommissionen schaffen, die in den kommenden Jahren die politischen Strukturen des Landes ausarbeiten sollen", sagt Tabatabai. Wiezcorek-Zeul ist optimistisch. "Das wichtigste ist, dass alle im Land - auch die Warlords - wissen: Hinter der Regierung von Hamid Karzai steht die internationale Gemeinschaft." Sie sei es, die den wirtschaftlichen Wiederaufbau unterstütze, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit voranbringe und für Sicherheit und Ruhe sorge. "Wer die Arbeit der Loja Dschirga behindert, stört diesen wichtigen Prozess", so die deutsche Ministerin. Das werde von der großen Zahl der Afghaninnen und Afghanen nicht gewollt. Auch Tabatabai kann und will sich nichts anderes vorstellen: "Das Treffen muss einfach ein Erfolg werden." Und doch beschleichen ihn in ruhigen Nächten Zweifel. Dann scheinen hinter seinen Träumen Konfliktlinien auf: Zwischen traditionsbewussten Alten und westlich orientierten Jungen; zwischen Daheimgebliebenen und Zurückgekehrten; zwischen Frauen und Männern; zwischen dem modernen Rechtsstaat und der islamischen Tradition. "Das ist der zentrale Konflikt", vermutet Tabatabai: "Denn auf der einen Seite stehen Vorstellungen, für die die USA Krieg gegen die Taliban geführt haben _ und auf der anderen Jahrhunderte alte Überzeugungen."
Kabul (AFP) - Ab Montag sollen in der afghanischen Hauptstadt Kabul über eintausend Volksvertreter zur traditionellen Loya Jirga zusammentreten, um eine neue Übergangsregierung zu bestimmen. Viele Fragen sind allerdings noch ungeklärt: Zum Beispiel ob die in der bisherigen Interimsregierung vergleichsweise schwach vertretenen Paschtunen mehr Posten bekommen sollen; wie die stärker repräsentierten Tadschiken zur möglichen Abgabe bisheriger Ämter stehen würden; ob die Abgeordeten der Loya Jirga nur einen Regierungschef bestimmen sollen oder gleich das gesamte Kabinett.
Völlige Unklarheit herrscht vor Beginn der Volksversammlung auch über ihr eigentliches Ziel. Während Interims-Premier Hamid Karsai davon ausgeht, dass der künftige Regierungschef - alles deutet darauf hin, dass er es selber wird - sein Kabinett bestimmt, meinen andere Experten, dies sei Aufgabe der Loya Jirga.
An der Wiederwahl des bisherigen Übergangs-Präsidenten Karsai gibt es kaum Zweifel, doch die Warlords haben ihre eigenen Ziele. KABUL – Am Montag tritt in der afghanischen Hauptstadt Kabul die Loya Dschirga, die Große Versammlung des Volkes, zu ihrer sechstägigen Konferenz zusammen, um einen neuen Regierungschef und eine neue Übergangsregierung für die nächsten zwei Jahre zu wählen. Dabei wird sich entscheiden, welchen Weg das Land einschlägt: den des Friedens, vielleicht sogar der Demokratie, oder den des Bürgerkriegs und des Chaos. Ausschlaggebend ist deshalb, wer die 1501 Delegierten der Versammlung sind. Zwar gibt es kaum Zweifel, dass Hamid Karsai, der charismatische, pro-westliche Übergangspräsident, abermals gewählt wird. Aber der 44-jährige Paschtune allein kann keine Stabilität und kein Ende von religiösem Fanatismus in Afghanistan garantieren. Nur bis zur Stadtgrenze Gewiss ist es ein Wunder, dass die Loya Dschirga, die im Dezember auf der Afghanistan-Konferenz in Bonn geplant wurde, nach sechs Monaten überhaupt zusammentritt. In diesem halben Jahr hat sich Karsai als integrer Mann erwiesen. Aber seine Zentralregierung ist schwach und endet praktisch an den Stadtgrenzen von Kabul. Diejenigen, die in Afghanistan wirklich das Sagen haben, verweigern Karsai ihre Unterstützung: die mächtigen Kriegsherren. Denn dann wäre ihre Macht zu Ende in den Fürstentümern, die sie sich aus dem terrorisierten Land herausgeschnitten haben und die sie in Kriegen gegen ihre Rivalen ständig zu vergrößern trachten. Bezeichnend ist, dass Karsai in der ganzen Welt herumgereist ist, aber in seinem eigenen Land ist das nicht möglich. Die Kriegsherren sind heute stärker als beim Fall der Taliban. Das liegt an der Unterstützung durch die USA, die sie als Verbündete brauchen. So sehr hat man in Washington über der Terroristenjagd offenbar das eigentliche Ziel vergessen, eine Nation von Grund auf aufzubauen, dass die Amerikaner sogar neue Kriegsherren geschaffen haben mit Privatarmeen bis zu 30 000 Mann. Dennoch sind es nach wie vor vor allem die drei größten Warlords, welche die Schaffung eines modernen Nationalstaats verhindern wollen. Da ist einmal Ismail Khan, ein während des Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer hochgerühmter Mudschaheddin-Führer, der sich mit iranischer Unterstützung im westlichen Herat ein Königreich geschnappt hat, wo er mit eiserner Faust schaltet und waltet, den Wiederaufbau betreibt und auch als Erster Mädchen wieder in die Schulen ließ. Der zweite – und mächtigste – der Kriegsfürsten ist der ruchlose Usbeken-General Abdul Raschid Dostum, der sein Reich im Norden, um Mazar-i-Sharif und Shibergan, hat. Und schließlich ist Gulbuddin Hekmatyar aus dem iranischen Exil wieder aufgetaucht, ein fanatischer Islamist und ehemals Hauptbegünstigter der amerikanischen und pakistanischen Hilfe im Stellvertreterkrieg gegen Moskau. Um wieder an die Macht zu kommen, macht er ausgerechnet mit Taliban und Osama bin Ladens El Qaida gemeinsame Sache, deren führende Kader in Pakistan untergetaucht sind und deren Kämpfer gerade in Kaschmir einen Krieg zwischen Pakistan und Indien zu provozieren suchen. Auswahl massiv behindert Es sind die afghanischen Kriegsherren, die großen und die kleinen, die den Auswahlprozess für die Delegierten der Loya Dschirga massiv behindert haben, weil sie ihre Leute in der Versammlung sitzen haben wollen. Nur die wenigsten Delegierten sind deshalb frei gewählt worden. Am deutlichsten wird die Einflussnahme im Fall Dostum. Obwohl Kriegsherren von der Loya Dschirga fern gehalten werden sollen, hat er sich selbst zum Delegierten ernannt, „um die Interessen der usbekischen Minderheit zu wahren", wie er scheinheilig behauptet.
Von Winrich Kühne Der Friedensprozess in Afghanistan geht in eine entscheidende Etappe. Am Montag beginnt die Loja Dschirga. Eine Woche lang werden mehr als 1500 Delegierte aus dem ganzen Land nach dem Vorbild früherer Versammlungen afghanischer Stammesführer und Notabeln beraten. Ihre Aufgabe ist es, sich auf einen Übergangspräsidenten und eine Übergangsverwaltung zu einigen. Gleich nach der Dschirga steht ein weiteres wichtiges Ereignis an. Die Türkei übernimmt von den Briten die Rolle der Lead Nation bei Isaf, der Friedenstruppe in Kabul. Mehr als eintausend zusätzliche Soldaten, zumeist Muslime, wird der türkische General Akin Zorlu mitbringen. Die Briten und andere Staaten werden ihre Kontingente entsprechend reduzieren. Ein Gefühl des déjà vu lässt sich bei dieser Kommando-Übernahme nicht vermeiden. Es war ebenfalls ein türkischer General, der im 1993 den Befehl über einen bis dato erfolgreichen Friedenseinsatz übernahm – den in Somalia. Dessen unrühmliches Ende ist bekannt. Natürlich war es nicht der türkische General Cevik Bir, der für das Scheitern verantwortlich war. Er war nur der Form halber Oberkommandierender. Tatsächlich gesteuert wurde der Einsatz von einem US-General und von Cencom, dem zentralen Kommando der USA in Tampa/Florida, das jetzt auch für die Truppen der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan zuständig ist. Zweifellos gibt es gewichtige Unterschiede zwischen dem Einsatz in Afghanistan und dem in Somalia. Selbst mehr als 18 tote GIs, die damals bei der Jagd auf Aidid ums Leben kamen, wären heute für Washington kein Grund, sich zurückzuziehen. Und ganz anders ist auch die Rolle der Deutschen. In Afghanistan stehen sie an vorderster Front. Deutsche Polizisten haben den Wiederaufbau der Polizei federführend übernommen. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Wichtiger noch: Es ist ein deutscher General, der die multinationale Truppe in Kabul befehligt. Das wird auch nach der Ankunft des türkischen Generals so bleiben. Dessen Rolle ist in der Substanz also wiederum unklar, zumal ihm ein Engländer als Stellvertreter beigegeben ist, und außerhalb Kabuls entscheidet das amerikanische Militär – in Abstimmung mit den britischen Spezialeinheiten – sowieso allein. Funkstille mit Folgen
Man muss sich wundern. Es sind nämlich vor allem die Militärs, nicht zuletzt die amerikanischen, die immer wieder die absolute Notwendigkeit zur Unity of Command in einem schwierigen Gelände predigen. Afghanistan ist zweifellos ein solches Gelände. Die für den zivilen Aufbau zuständige Mission der Vereinten Nationen, Unama, ist demgegenüber ein Vorbild an Klarheit. Sie ist in zwei Pfeilern mit klaren Unterstrukturen gegliedert. Pfeiler Eins ist zuständig für die politischen Angelegenheiten. In seinen Zuständigkeitsbereich fällt insbe-sondere die Durchführung der Loja Dschirga. Pfeiler Zwei umfasst die Nothilfe und den Wiederaufbau. Und an der Spitze von Unama steht ein Mann, der mehr als jeder andere dazu beigetragen hat, den Friedensprozess in Afghanistan voranzutreiben, der algerische UN-Sonderbeauftragte Lakhdar Brahimi. Die Struktur der UN-Präsenz in sich ist also stimmig. Auch die Koordinierung mit der deutschen Polizeihilfe, die den UN nicht unmittelbar untersteht, wird als gut bezeichnet. Dagegen beklagen Mitarbeiter von Unama, dass sie über das für ihre Arbeit durchaus wichtige militärische Vorgehen der Amerikaner außerhalb Kabuls nicht informiert und schon gar nicht konsultiert werden. Die Lehren der Vergangenheit hinsichtlich derartig inkohärenter Führungsstrukturen gerade im Sicherheitssektor sind eindeutig: Sie funktionieren nur bei „schönem Wetter". Bei größeren Gewaltausbrüchen wird ihre Unzulänglichkeit schnell offenbar. Die Befehlswege sind nicht eindeutig, persönliche und nationale Rivalitäten – es gibt sie nicht nur bei den Afghanen – werden plötzlich zu Sand im Getriebe. Wird dann zum Beispiel der deutsche Kommandant der multinationalen Truppe auf jeden Fall den Anordnungen des türkischen Generals folgen? Wohl kaum, wenn ihm Berlin und andere europäische Hauptstädte ein anderes Vorgehen nahe legen. Warlords und lokale Milizen sind Meister darin, derartigeBruchstellen und Widersprüche auszunutzen. Der türkische General ist mit einem weiteren Handicap belastet: Die Türkei gilt als Freund der Nordallianz und speziell des usbekischen Kriegsherrn Raschid Dostum. Gefährliche Mischung
Die Loja Dschirga ist nicht nur eine hoffnungsvolle, sondern auch riskante Etappe. Die Gefahr, dass es zu ihrem Ende und danach zu Gewaltausbrüchen kommt, ist beträchtlich. An Warlords und Gruppierungen, die mit ihrem Ergebnis nicht zu frieden sein werden, wird es nicht fehlen. Als besonders inakzeptabel gilt die Dominanz der drei Tadschiken in der jetzigen Übergangsregierung, Innenminister Junis Qanuni, Verteidigungsminister Mohammed Fahim und Außenminister Abdullah Abdullah. Einer von ihnen wird wohl gehen müssen. Was zum Beispiel, wenn Fahim, nicht nur Warlord sondern auch Verteidigungsminister, im Falle einer ungenügenden Beteiligung an der künftigen Regierung putscht? Er verfügt über eine ihm ergebene Truppe von 40000 Mann. Insgesamt wird die Neuverteilung der Macht wohl zu vermehrten Problemen zwischen der neuen Zentralregierung und den regionalen Herrschern führen. Die neue Regierung verfügt zwar über Truppen von etwa 20000 Mann. Weder sie noch die von den Amerikanern neu ausgebildeten Einheiten werden im Kampf gegen die maßgeblichen Kriegsherren jedoch viel ausrichten können. Ihr Eingreifen könnte vielmehr der Beginn eines Rückfalls in den Bürgerkrieg sein. Ein weiteres Problem ist die organisierte Kriminalität. Afghanistan ist der größte Produzent von Rohopium und Heroin. Die Bauern, schwer verschuldet, brauchen das Einkommen aus dem Mohnanbau, um zu überleben. Die Mischung von armen Bauern, regionalen Warlords, gepaart mit ethnischen oder religiösen Spannungen, ist explosiv. Wird es also gelingen, der Dschirga und der aus ihr hervorgehenden Übergangsverwaltung einen ausreichend sicheren Rahmen zu geben? Zweifellos haben die afghanischen Kämpfer noch großen Respekt vor den amerikanischen B-52 Bombern. Ob und wann diese jedoch auch zur Stabilisierung des Friedensprozesses und nicht nur zur Bekämpfung von al-Qaida eingesetzt werden, ist völlig ungewiss. Denn Washington braucht die Warlords für ihre Jagd auf die Gefolgsleute von Osama bin Laden. Und die wissen das, insbesondere diejenigen, die durch die amerikanische Militärhilfe ihre Position erheblich verbessern konnten. Mit Genugtuung werden sie vernommen haben, dass Washington der Türkei bindend zugesagt hat, in dessen Zeit als Lead Nation, also bis Ende des Jahres, keine Ausweitung des Isaf-Mandats über Kabul hinaus zu erlauben. Die Hoffnung auf einen friedlichen Verlauf des Friedensprozesses wird also weiter maßgeblich von zwei Faktoren abhängen: dem Verhandlungsgeschick von Lakhdar Brahimi und der Kriegsmüdigkeit der Afghanen. Der Autor ist Leitungsmitglied der Stiftung Wissenschaft und Politik
Auseinandersetzungen um die zukünftige Rolle des afghanischen Ex-Königs. Große Ratsversammlung tritt erst am Dienstag zusammen Kabul - Der Beginn der Großen Ratsversammlung in Afghanistan wird sich um etwa 24 Stunden vrschieben. Dies teilte ein Sprecher des afghanischen Außenministeriums in Kabul mit. Die Loja Dschirga sollte eigentlich am Montagmorgen zusammentreten. Kurz vor dem geplanten beginn der Versammlung gab es Auseinandersetzungen über die künftige Rolle von Ex-König Mohammed Sahir Schah (87). Auch die Frage, welche afghanischen Sicherheitskräfte auf dem Gelände der Loja Dschirga verantwortlich sein sollten, schien noch unklar. Nach Angaben diplomatischer Kreise in Kabul wollen die Führer der so genannten Nordallianz, die mit ihren Einheiten das militärische Rückgrat der Interimsregierung bilden, dem Exkönig keine Rolle in der Versammlung zubilligen. Die von Tadschiken dominierte Nordallianz will den bisherigen Übergangsregierungschef Hamid Karsai zum Präsidenten wählen lassen und dann das Amt des Ministerpräsidenten mit einem Tadschiken besetzen. Vertreter der Paschtunen, der größten Volksgruppe, wollen aber Sahir Schah als Präsidenten sehen. Sahir Schah selbst erklärte sich bereit, das Amt zu übernehmen, schloss aber eine Rückkehr auf den Thron aus. „Ich bin nicht hier, um die Monarchie wieder einzuführen", sagte er in einem Interview.Hauptaufgabe der Loja Dschirga ist die Wahl einer neuen Übergangsregierung, die 18 Monate lang amtieren und freie Wahlen vorbereiten soll. Außerdem soll sie eine neue Verfassung ausarbeiten.Der Loja Dschirga gehören rund 1.550 Delegierte aus verschiedenen Provinzen und Volksgruppen an. Die Einberufung der Versammlung wurde auf der Bonner Afghanistan-Konferenz im November vergangenen Jahres vereinbart. Der Kommandeur des deutschen Kontingents bei der Internationalen Schutztruppe ISAF, Brigadegeneral Carl Hubertus von Butler, warnte vor möglichen Anschlägen islamistischer Terroristen auf die Loja Dschirga. Der EU-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Klaus Klaiber, forderte, im künftigen Afghanistan die Macht der regionalen Fürsten zu beschränken. Der afghanische Wiederaufbauminister Amin Farhang sagte, die Rückkehr Afghanistans zu Ruhe, Frieden und Stabilität brauche viel Geduld.
Kabul (rpo). Die Große Ratsversammlung in Afghanistan, die Loja Dschirga, ist auf Dienstag verschoben worden. Dies teilte ein Sprecher des afghanischen Außenministeriums in Kabul mit. Wie aus diplomatischen Kreisen verlautete, schickte Geheimdienstchef Mohammed Arif, einer der prominentesten Vertreter der alten Nordallianz, bewaffnete Männer zum geplanten Versammlungsort der Loja Dschirga. Beobachter werteten dies als beunruhigende Demonstration der Stärke seitens der Minderheit der Tadschiken. Diese besetzen zurzeit einige der wichtigsten Kabinettsposten, nämlich die Ressorts Verteidigung, Inneres und Außenpolitik. Der Loja Dschirga gehören rund 1.550 Delegierte aus verschiedenen Provinzen und Volksgruppen an. Die Einberufung der Versammlung wurde auf der Bonner Afghanistan-Konferenz im November vergangenen Jahres vereinbart. Hauptaufgabe der Loja Dschirga ist die Wahl einer neuen Übergangsregierung, die 18 Monate lang amtieren und freie Wahlen vorbereiten soll. Außerdem soll sie eine neue Verfassung ausarbeiten. EU-Sonderbeauftragter droht mit Mittelentzug
Die Europäische Union setzt auf einen Erfolg der Großen Ratsversammlung. Der EU-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Klaus-Peter Klaiber, äußerte sich zuversichtlich zu deren Ergebnis. Er gehe davon aus, dass die Ratsversammlung trotz massiver Einschüchterungsversuche seitens der so genannten Warlords friedlich verlaufen werde. Wichtigste Voraussetzung für eine Demokratisierung Afghanistans sei aber eine starke Übergangsregierung, die die Kontrolle über das gesamte Land ausübe. Sollte es dies nicht gelingen, würde "es sehr schwer, auch die Entwicklungshilfeleistungen vernünftig fortlaufen zu lassen", warnte der EU-Sonderbeauftragte. Er plädiere deshalb dafür, den Warlords die finanziellen Ressourcen zu kürzen, um ihnen so die Machtbasis zu nehmen. Der Kommandant des deutschen Kontingents der internationalen Schutztruppe für Afghanistan, Carl-Hubertus von Butler, äußerte Sorge über mögliche Anschläge auf die Loja Dschirga. "Es gibt Hinweise, dass Fundamentalisten versuchen könnten, die Versammlung zu stören", sagte der General.
Kabul - Eigentlich wollte man sich auf der Großen Ratsversammlung beraten. Doch im Feilschen um die Zukunft Afghanistans geht es um zu viel. So sollen die Weichen bereits vor dem Zusammentreffen von rund 1550 Delegierten aus verschiedenen Provinzen und Volksgruppen gestellt werden. Und weil sie dies bislang nicht gelang, wurde der Beginn der Loya Jirga kurzerhand um einen Tag verschoben. Beobachter werteten dies als machtvolle und zugleich beunruhigende Demonstration der Stärke seitens der Minderheit der Tadschiken. Diese besetzen zurzeit einige der wichtigsten Kabinettsposten, nämlich die Ressorts Verteidigung, Inneres und Außenpolitik. Gefahr für die Deutschen
Der Kommandeur des deutschen Kontingents bei der Internationalen Schutztruppe in Afghanistan (Isaf), Brigadegeneral Carl Hubertus von Butler, und seine Kollegen bei der Isaf stehen dieser Tage unter noch höherer Anspannung als sonst. Denn sie sollen für die Sicherheit der Loya Jirga, die eine neue Übergangsregierung für die nächsten 18 Monate wählen, freie Wahlen vorbereiten und eine Verfassung ausarbeiten soll, sorgen. Butler wusste noch nichts von der anrückenden Soldateska des Geheimdienstchefs, da gab er bereits eine Terrorwarnung aus. Gegenüber der "Bild"-Zeitung sagte der General: "Es gibt Hinweise, dass Fundamentalisten versuchen könnten, die Versammlung zu stören." Dabei seien auch Raketen- oder Selbstmordanschläge islamistischer Terroristen denkbar. Zunächst war geplant gewesen, die Versammlung am Montagmorgen zu beginnen. Dann wurde die Loya Jirga um ein paar Stunden auf den Nachmittag verschoben. Dann führten die diplomatischen Rangeleien hinter den Kulissen dazu, den Beginn der Großen Ratsversammlung um einen Tag auf Dienstag zu verschieben. Aus diplomatischen Kreisen verlautete, es habe Unstimmigkeiten über die Rolle von Ex-König Zahir Schah gegeben. Angeblich wollen die Führer der so genannten Nordallianz, die mit ihren Einheiten die Taliban vertrieben haben und nun das militärische Rückgrat der Interimsregierung unter Premier Hamid Karzai bilden, dem Ex-König keine Rolle in der Versammlung zubilligen. Die Einberufung der Versammlung wurde auf der Bonner Afghanistan-Konferenz im November vergangenen Jahres vereinbart.
Kabul/Neu Delhi (dpa) Der frühere afghanische König Mohammed Sahir Schah ist bereit, das Amt des Präsidenten zu übernehmen. Er werde jede Entscheidung der großen Ratsversammlung Loja Dschirga akzeptieren, sagte Sahir Schah (87) dem britischen Sender BBC in einem am Montag ausgestrahlten Interview. Vor allem paschtunische Clanführer wollen Sahir Schah während der Loja Dschirga zum Präsidenten machen. Die von Tadschiken dominierte Nordallianz plant dagegen, den bisherigen Übergangsregierungschef Hamid Karsai zum Präsidenten wählen zu lassen. Sowohl Sahir Schah als auch Karsai sind Paschtunen. Die paschtunische Volksgruppe, die größte in Afghanistan, ist zurzeit kaum in der Regierung vertreten. Würde Karsai Präsident, könnte das Amt des Regierungschefs an einen Tadschiken vergeben werden. Übernähme Sahir Schah das Präsidentenamt und bliebe Karsai Ministerpräsident, sähen viele Tadschiken, Usbeken und Hasara darin voraussichtlich den Beginn einer erneuten paschtunischen Vorherrschaft. e wieder einzuführen», sagte Sahir Schah.
Auch die Zahl der Delegierten stand am Montag noch nicht endgültig fest. Ursprünglich hatten 1051 gewählte und etwa 480 ernannte Abgeordnete teilnehmen sollen. Mittlerweile soll die Liste aber bereits 1700 Namen umfassen. Außerdem bahnt sich ein Streit um die Rolle von Sahir Schah an. Einige Paschtunenführer wollen ihn zum Präsidenten Afghanistans machen, während die von der Nordallianz dominierte Regierung den bisherigen Ministerpräsident Hamid Karsai in das Präsidentenamt wählen lassen will.
Afghanischer Minister warnt vor hohen Erwartungen an Loja Dschirga Der afghanische Minister für Wiederaufbau, Amin Farhang, hat vor zu großen Erwartungen an die Loja Dschirga gewarnt. Die «Große Ratsversammlung» wird heute erstmals zusammentreffen. Hauptziel der Versammlung sei die Wahl einer Übergangsregierung. Diese werde sich dann um eine neue Verfassung für Afghanistan bemühen, sagte Farhang. Der EU-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Klaus Klaiber, sieht die wichtigste Aufgabe für das zukünftige Staatsoberhaupt in der Beschränkung der Macht der regionalen Fürsten.
Kabul - Für den Kommandeur des deutschen Kontingents bei der Internationalen Schutztruppe in Afghanistan (Isaf), Brigadegeneral Carl Hubertus von Butler und seine Kollegen bei der Isaf sind aufregende Tage angebrochen. Die Sicherheit der am heutigen Montag beginnenden Ratsversammlung Loja Dschirga, die eine neue Übergangsregierung für die nächsten 18 Monate wählen, freie Wahlen vorbereiten und eine Verfassung ausarbeiten soll, ist gefährdet. Butler hat vor terroristischen Anschläge gewarnt. Gegenüber der "Bild"-Zeitung sagte der General: "Es gibt Hinweise, dass Fundamentalisten versuchen könnten, die Versammlung zu stören." Dabei seien auch Raketen- oder Selbstmordanschläge islamistischer Terroristen denkbar. Die diplomatischen Kämpfe hinter den Kulissen sind derweil in vollem Gange. Der Zusammentritt der Großen Ratsversammlung hat sich gleich mal verzögert. Ursprünglich wollten sich die Gesandten der verschiedenen Regionen am Morgen zusammensetzen. Wegen Unstimmigkeiten über die Rolle von Exkönig Mohammed Zahir Schah wurde beschlossen, den Beginn der Versammlung um mehrere Stunden zu verschieben, wie aus diplomatischen Kreisen verlautete. Angeblich wollen die Führer der so genannten Nordallianz, die mit ihren Einheiten die Taliban vertrieben haben und nun das militärische Rückgrat der Interimsregierung unter Premier Hamid Karzai bilden, dem Exkönig keine Rolle in der Versammlung zubilligen. Der Loja Dschirga gehören rund 1550 Delegierte aus verschiedenen Provinzen und Volksgruppen an. Die Einberufung der Versammlung wurde auf der Bonner Afghanistan-Konferenz im November vergangenen Jahres vereinbart.
In Afghanistan verläuft alles nach Plan. Die Übergangsregierung regiert, die internationale Schutztruppe schützt, die Hilfsorganisationen helfen und ab heute wird sich die Große Ratsversammlung, die Loja Dschirga, versammeln. Das alles findet in Kabul statt, wo sich die meisten Berichterstatter aufhalten - und über das schöne, neue Afghanistan berichten. Aber in den "restlichen" Landesteilen sieht die Sache anders aus. Da haben immer noch Kriegsfürsten die absolute Macht, kommen keine oder wenige Hilfslieferungen an, brechen immer wieder Kämpfe zwischen alten und neuen Gegnern aus. Konkurrenten werden denunziert und allsdann so manches Mal prompt von den Taliban-jagenden US-Truppen bombardiert. Aber auch in Kabul trügt der schöne Schein. Unter der Oberfläche einer halbwegs restaurierten staatlichen Ordnung wühlen und kungeln einstige Mudschaheddin-Führer darum, bessere Posten und damit mehr Macht zu bekommen. Da sie aber bislang eine oberflächliche Stabilität garantierten, sind sie die Hoffnungsträger und damit Haupt-Nutznießer der internationalen Unterstützung. Die kleinen multiethnischen, demokratischen Gruppen, die keine Milizen oder starke Volksgruppen im Rücken haben, wurden bisher wenig gefördert. Ihre Vertreter warnen: Der Beschluss zur Entwaffnung der Milizen wurde kaum umgesetzt. Wer von den Ergebnissen der Loja-Dschirga-Beratungen enttäuscht ist, könnte wieder die Waffen nutzen. Dann aber verliefe nichts mehr nach Plan.
11. Juni 2002 Mit dem Verzicht auf alle Ämter hat der ehemalige König Zahir Schah die Spekulationen über seine künftige politische Rolle beendet. Wegen des Streits zwischen Anhängern des Ex-Monarchen und des amtierenden Regierungschefs Hamid Karsai war der ursprünglich für Montag vorgesehene Beginn der Großen Ratsversammlung (Loja Dschirga) um 24 Stunden verschoben worden. Am Abend bekräftigte Zahir Schah auf einer gemeinsamen Pressekonferenz seine Unterstützung für Karsai. Der Ex-König erklärte, er wolle weder die Monarchie wieder einführen noch stehe er für eines der zu besetzenden Staatsämter zur Verfügung. „Ich bin kein Kandidat für die Loja Dschirga", erklärte der Ex-König. „Mein Ziel ist es, meiner leidenden Nation zu dienen. Ich unterstütze völlig die Kandidatur Herrn Karsais.“ Karsai seinerseits sagte, dem vor wenigen Wochen aus dem römischen Exil zurückgekehrten Zahir Schah komme weiterhin die Rolle des „Vaters der Nation“ zu und dankte dem ehemaligen Monarchen für dessen Rückendeckung. Unterdessen haben enttäuschte Anhänger Zahir Schahs damit gedroht, die Loja Dschirga zu boykottieren. Nach seiner Eröffnungsrede solle der Ex-Monarch begründen, warum er seinen Verzicht erklärt habe, sagte der Delegierte Faisal Achmed aus der zentralafghanischen Provinz Ghasni am Dienstag in Kabul. Falls die Antwort des Ex-Königs nicht zufriedenstellend ausfalle, könnten viele Delegierte die Versammlung boykottieren. Favoritenrolle für Karsai Zwischen den Anhängern von Zahir Schah und dem Lager Karsai war es zu Unstimmigkeiten gekommen, nachdem Anhänger des Ex-Königs ihn in einer wichtigeren Rolle als ursprünglich geplant sehen wollten. Zahlreiche Paschtunen hatten sich sogar für eine Wiedereinführung der Monarchie ausgesprochen. Die Anhänger von Karsai seien darüber „nicht glücklich“, sagte ein Abgeordneter. Karsai gilt als Favorit für das Amt des Regierungschefs. Der 44-jährige Paschtune war im Dezember entsprechend den Beschlüssen der Bonner Afghanistan-Konferenz Chef der Übergangsregierung geworden. Er verfügt nicht über eine eigene Miliz wie viele seiner Minister, genießt aber das Vertrauen des Westens. Beobachter gehen davon aus, dass die Klarstellung auf Druck der Vereinigten Staaten zu Stande gekommen ist, um die Wahl von Karsai zum Präsidenten zu sichern. Auch aus den Reihen der Nordallianz erhält Karsai Unterstützung. Sowohl Außenminister Abdullah Abdullah als auch Verteidigungsminister Mohammed Fahim haben sich für Karsai als Staatsoberhaupt ausgesprochen. Abdullah zufolge unterstützen auch mächtige Militärkommandeure wie Ismail Khan und Hadschi Kadir Karsais Kandidatur. Loja Dschirga kann beginnen Nach der Einigung zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen ist der Weg frei für die Eröffnung der Großen Ratsversammlung, die jetzt am Dienstagmittag stattfinden soll. Die Delegierten tagen auf dem Gelände der Polytechnischen Hochschule in Kabul in einem riesigen Zelt, das die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) aufgestellt hat. Aus Sicherheitsgründen dürfen die Teilnehmer während der Versammlung das Gelände nicht verlassen. Die rund 1300 Männer und 200 Frauen werden auf dem Gelände untergebracht. Die Internationale Schutztruppe für Afghanistan (Isaf) kontrolliert jeden Teilnehmer auf Waffen. Afghanische Politik als Minenfeld mit Stolperdrähten
Kabul. Je näher die entscheidenden Verhandlungen über die politische Zukunft Afghanistans rücken, umso mehr entpuppt sich die Innenpolitik des vom Krieg gezeichneten Landes als Minenfeld, auf dessen gefährlichem Terrain die Akteure um Macht und Einfluss kämpfen. Für Außenstehende ist das Geflecht der Interessen und Machtcliquen, Stammesverbände und sonstigen Gefolgschaften schwer durchschaubar. Unter diesen Voraussetzungen wundert es nicht, dass die vereinbarte Loja Dschirga oder Große Ratsversammlung bereits vor ihrem Beginn ins Stolpern gerät. Der pünktliche Zusammentritt der mehr als 1.500 Ratsmitglieder wurde am Montag dadurch verhindert, dass kurz zuvor ein Streit über die Rolle des Exkönigs Mohammed Sahir Schah entbrannte, von der man eigentlich dachte, dass darüber Einigkeit bestehe. Der 87-Jährige war erst im April nach drei Jahrzehnten im Exil nach Kabul zurückgekehrt und soll die Verhandlungen der Loja Dschirga leiten. Ein politisches Mitspracherecht wollen besonders die Militärführer der so genannten Nordallianz dem Exmonarchen nicht zugestehen. Jetzt wird die Versammlung vermutlich am (morgigen) Dienstag zusammentreten. Erste Aufgabe der Loja Dschirga ist die Wahl einer neuen Übergangsregierung, die die jetzige Interimsregierung ablösen und das Land bis zu freien Wahlen in eineinhalb Jahren führen soll. Besonders hier und bei der ebenfalls anstehenden Ausarbeitung einer neuen Verfassung soll Sahir Schah nach dem Willen der Kriegsherrn des Nordens keine Rolle spielen. Der Ministerpräsident der bisherigen Interimsregierung, Hamid Karsai, traf sich in aller Eile am Sonntagabend mit Sahir Schah, um mit ihm einen Kompromiss auszuarbeiten. Für den Afghanistan-Kenner Alexander Thier, Kabuler Vertreter der Internationalen Krisengruppe, einer Nichtregierungsorganisation, kommt der Streit offenbar nicht unerwartet: „Der erste Machtkampf legt die Rolle des Exkönigs fest“, erklärt er. Einige Teilnehmer warnen bereits davor, dass eine Regierung ohne Sahir Schah im Chaos enden könnte. Ungeachtet des Ausgangs des Gerangels um den König werden auch die mächtigen Führer Ismail Chan, der Usbekengeneral Raschid Dostum sowie der immer noch ehrgeizige Expräsident Burhanuddin Rabbani an Premier Karsai nicht vorbeikommen. Ironischerweise ist es gerade seine relative Macht- und Einflusslosigkeit, die ihm mit ziemlicher Sicherheit auch in der nächsten Regierung den Posten des Ministerpräsidenten sichern dürfte. Der Vorsitz in der Loja Dschirga ist ein weiteres wichtiges Instrument zur Interessenvertretung. Der Vorsitzende der Vorbereitungskommission, Ismail Kasim Jar, ist wegen seiner politischen Nähe zur Nordallianz vorbelastet. So wird der Karsai-Berater Aschraf Gani als Leiter einer international aufgeschlossenen Ratsversammlung gehandelt. Volksgruppen misstrauen einander Dann wären da noch die „großen Drei“: Verteidigungsminister Mohammed Fahim, Innenminister Junus Kanuni und Außenminister Abdullah Abdullah. Alle drei Tadschiken, die noch dazu aus demselben Tal stammen, haben so großen Einfluss, dass voraussichtlich mindestens einer von ihnen seinen Hut nehmen muss. Bleiben noch die Animositäten der ethnischen Minderheiten und Volksgruppen untereinander. Das Mehrheitsvolk der Paschtunen, dem auch die meisten der verhassten Taliban angehörten, haben Angst, von den Tadschiken dominiert zu werden. Diese beäugen misstrauisch die Usbeken, und die misstrauischsten von allen sind die Hasara. Diese bilden eigentlich überhaupt kein Volk, sondern stellen ein im Laufe der Zeit zusammengewürfeltes Völkergemisch dar, dem heute in Afghanistan etwa 1,1 Millionen Menschen angehören. In den Kriegen der letzten zwei Jahrzehnte bezogen sie oftmals Hiebe von allen Seiten. Hasara-Führer Said Hussein Anwari, Landwirtschaftsminister unter Karsai, sagt: „Niemand ist neutral.“ Deshalb verspreche er sich von der Loja Dschirga auch noch interessante Entwicklungen. Dabei komme es auch darauf an, ob die Akteure bereits wüssten, wo ihre Interessen lägen, oder ob sich diese erst im Laufe der Zeit durch allerlei Kuhhändel herausschälen würden. Afghanistans Ex-König verzichtet
Kabul. Bis zwei Uhr morgens verhandelten Hamid Karzai, Chef der afghanischen Übergangsregierung, der UNOSonderbeauftragte Lakhdar Brahimi, der US-Sonderbeauftragte für Afgha-nistan, Salmai Khalilzad, Verteidigungsminister Mohammed Izaq Fahim sowie Ex-König Zahir Shah in der Villa des ehemaligen Monarchen in Kabul. Dann war das Ergebnis ausgehandelt, das von den Delegierten der Loya Jirga, der Nationalen Versammlung, abgesegnet werden sollte. Der frühere König werde zukünftig allenfalls repräsentative Aufgaben erhalten, Karzai solle Präsident mit Machtbefugnissen werden.
Afghanistan is far from being out of the mire
Nothing left to chance in rigging the Loya Jirga
AFGHANISTAN
Ganz Afghanistan fiebert der Loya Jirga entgegen, der Großen Ratsversammlung, auf der endlich Frieden gemacht werden soll in diesem von Tod und von Hunger heimgesuchten Land. Überall in den Provinzen wurden Delegierte gewählt, die seit Montag dieser Woche in Kabul eine neue Regierung bestimmen sollen. Die Hauptstadt hat sich mächtig herausgeputzt, überall wehen Fahnen, werkeln Zimmerleute, wachen Polizisten. Doch in Khost bleibt alles beim Alten. Von hier droht die größte Gefahr. Die mehrere hundert Quadratkilometer große Gegend von der Bergstadt Gardez über den Sete-Kandau-Pass bis in die Tiefebene nahe Pakistan kommt nicht zur Ruhe. Der hier besonders stark verehrte ehemalige König ist zwar ins Land zurückgekehrt. Ausländische Soldaten jagen versprengte Taliban und bauen Schulen und Krankenhäuser auf. Aber der Osten Afghanistans, wo die Bärte der Männer noch immer lang und Frauen selbst in ihren blauen Burkas kaum auf der Straße zu sehen sind, weil die Männer sie ins Haus verbannen, steht schon wieder am Rande eines Bürgerkriegs. Er könnte auch Kabul erfassen. Kaum hat Gouverneur Hakim Taneiwal seine Pflichten gegenüber Allah erfüllt, jagen zwei Pick-ups auf seinen Hof. Zwei Dutzend Kämpfer springen von der Ladefläche; einer ist verletzt, die Heckscheibe eines Fahrzeugs zersprungen. "Die Leute von Padscha Khan haben das Kind des Arztes entführt", ruft ein Commander aufgeregt und fuchtelt mit seiner Pistole herum. "Wir sind diesen Räubern gefolgt, aber sie konnten uns entkommen." Padscha Khan, der Kriegsfürst von Khost, ist der böse Geist der östlichen Provinzen. Er kommt und geht so schnell wie die Sandwindhosen, die sich in dieser vor Hitze berstenden Ebene nahe der pakistanischen Grenze bis zu 100 Meter hoch auftürmen. Sie zaubern Schlangen in die Landschaft, die unter weißen Kranichwolken tanzen. Gouverneur Taneiwal, ein kleiner Mann mit wachen Augen, hält Khan für "eine Schlange, einen Lügner, einen Mörder". Sein Kollege Taj Mohammed Wardak, der Gouverneur aus dem drei Stunden entfernten Gardez, sagt sogar: "Dieser Mann ist aus dem Tiergarten entlaufen. Man sollte ihn erschießen wie einen wilden Wüstenhund. Er macht nichts als Ärger." Der bullige Padscha Khan hat sein Hauptquartier nur ein paar hundert Meter vom Amtssitz Taneiwals entfernt aufgeschlagen. Seite 159 -->Er könne nicht lesen und schreiben, behaupten seine Gegner. Aber er beansprucht die Macht, seit er von der Regierung in Kabul als Gouverneur abgesetzt wurde, weil er zu selbstherrlich regierte und nur in die eigene Tasche wirtschaftete. So belagern und belauern sich die Truppen Khans und Taneiwals in dieser wegen ihrer Hitze gefürchteten, ockerfarbenen Stadt. Männer mit Sonnenbrillen aus Spiegelglas beäugen sich ständig, den Finger immer am Abzug der entsicherten Waffe. Es grenzt an ein Wunder, dass Khost noch nicht in Schutt und Asche liegt. Die Männer, die hier leben, haben viel Zeit für den kleinen Krieg. Ab und zu gibt es ein Scharmützel, weil irgendjemand eine Handgranate nach einem Auto geworfen oder einfach mal mit einem schweren MG von einem sandsackbewehrten Häuserdach ein paar Salven abgefeuert hat. Nach solchen Gefechten trägt man die Toten von den knochentrockenen Straßen und begräbt sie am Rande der Stadt unter bunten Wimpeln und Flaggen. Selbst die Friedhöfe sehen in Khost aus wie Heerlager. Taneiwal und Khan beanspruchen beide die Macht in Khost und der umliegenden Provinz. Wer sie faktisch hat, zeigen die Gewehrläufe von Padscha Khans Männern, die Reisenden auf dem Weg von Gardez nach Khost entgegengehalten werden. Hier lagern Khans Krieger, verwegen dreinblickende Kerle mit langen Bärten, Turbanen und um die Brust geschnallten Patronengürteln. Der Warlord hat auf der staubigen Schotterpiste, die vor allem von Lastern und Bussen benutzt wird, drei Checkpoints einrichten lassen. Seine Männer kassieren ab. Wer nicht zahlt, darf nicht passieren. Doch es bleibt nicht bei den in Afghanistan üblichen Straßenzollgeschäften. Khan zündelt, wo er nur kann. Ende Mai geriet eine amerikanische Patrouille bei Gardez in einen Hinterhalt, mehrere GIs wurden verletzt, zwei Soldaten starben. Vor einem Monat wurden mehrere Dutzend Menschen bei einem Granatenangriff in Gardez getötet, darunter viele Kinder. "Das war Khan", behauptet Gouverneur Wardak. Er und Taneiwal vermuten den Kriegsfürsten hinter einer ganzen Serie von Anschlägen in den östlichen Provinzen. Doch die Regierung in Kabul lässt Padscha Khan bisher noch gewähren. In der Kabuler Regierung gilt der Kriegsfürst zudem als Mann der Amerikaner. Im vergangenen Dezember wurde Khan auf Drängen der pakistanischen US-Botschaft von seinem Exilsitz in Peschawar zur Afghanistan-Konferenz am Bonner Petersberg geflogen, obwohl besonnene afghanische Politiker wie der Wiederaufbauminister Amin Farhang vor dem unberechenbaren Charakter des Kriegsfürsten gewarnt hatten. "Inzwischen ist er auch den Amerikanern lästig geworden", weiß Farhang. Eine offene Feldschlacht mit Khan wird Karzai erst nach der Loya Jirga wagen. Denn ein Bürgerkrieg im Osten seines Landes wäre zur Zeit "ein völlig falsches Signal", das die Delegierten auf der Ratsversammlung nur unnötig polarisieren würde, warnt ein Berater Karzais. "So stark ist Khan gar nicht", glaubt Taneiwal, "der hat höchstens noch 500 Mann." Das Satellitentelefon klingelt, sein Kollege Wardak aus Gardez ist wieder mal am Apparat. Er schlägt immer dasselbe vor: "Los, wir machen Khan fertig. Du erledigst seine Leute in Khost, ich schnapp sie mir in Gardez." Doch Taneiwal will nicht kämpfen. Seine Männer haben früher genauso verwegen ausgesehen wie die von Khan. Nun zwingt er die wilden Gestalten in Uniformen, lässt sie auf dem Hof strammstehen: "Bald haben wir eine gute Armee. Dann werden wir sehen, wer hier für Ordnung sorgt." Taneiwal spricht fließend Deutsch. Das hat er vor 35 Jahren während des Studiums, unter anderem in Frankfurt, gelernt. "Ich kannte Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit - genau genommen bin ich ein 68er." Er muss lachen. Und fügt in bester SDS-Diktion hinzu: "Auch in Khost muss die offene Gesellschaft Wirklichkeit werden." Wegen solcher Sprüche schimpft Khan ihn einen "Mann der Russen". Der lange Marsch durch die Institutionen hat Taneiwal in die gefährlichste Ecke Afghanistans geführt. Zuletzt lebte er mit seiner Frau in Australien. Übergangspremier Hamid Karzai bat ihn im März, nach Khost zu kommen. Nicht nur Khan bereitet ihm Sorgen. Seit die Pakistaner ihre Soldaten von der nahen Grenze abziehen, um sie in Kaschmir in Stellung zu bringen, registrieren die Spione der Regierung "stärkere Reisetätigkeiten" der Taliban- und Qaida-Kämpfer, die sich in die Stammesgebiete Pakistans zurückgezogen hatten. Die Grenze ist wieder durchlässig - ausgerechnet während der Loya Jirga, die als Hauptangriffsziel der Terroristen gilt. "Die Provinzen Paktia und Khost bleiben der Schwerpunkt der Qaida-Aktivitäten", heißt es in einem geheimen Lagebericht der Internationalen Schutztruppe. Taneiwal und viele Regierungsmitglieder in Kabul fürchten, Khan könnte mit den Terroristen gemeinsame Sache machen.
Kabul - Eine überwältigende Mehrheit der Delegierten stimmte für Karsai. Wie der Ratsvorsitzende Ismail Kasim Jar am Donnerstagabend mitteilte erhielt Karsai 1295 der 1555 Stimmen. Auf die Gegenkandidatin Masuda Dschalal entfielen 171 Stimmen, für den dritten Bewerber, Mir Mohammed Mahfus Nadai, votierten 89 Teilnehmer. Die Wahl wurde mit donnerndem Applaus der Ratsversammlung quittiert. Karzai wird damit bis zu den Parlamentswahlen im Jahr 2004 eines der ärmsten Länder der Welt führen. Er ist dafür verantwortlich, eine neue Verfassung ausarbeiten und die Wahlen vorbereiten zu lassen. Bei seiner Rede vor der Wahl am Donnerstag hatte Karzai erklärt, sein Hauptziel sei es, die Korruption im Land zu bekämpfen und ihm Einheit und Frieden zu bringen. "Wenn wir einig sind, werden wir Frieden haben, wenn wir uneinig sind, sind wir gar nichts", sagte der 44-Jährige bei seiner Vorstellungsrede. Karzai antwortete in seiner Rede auf die Beschwerden des fundamentalistischen Milizenführers Abdul Rasul Sajaf vom Vortag. Sajaf hatte in einem Statement "die Männer mit Gewehren" verteidigt, indem er auf die Leistungen der Mudschahidin im Kampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen hinwies. "Wir müssen unterscheiden zwischen den Mudschahidin und denen, die unser Land zerstörten", sagte Karzai mit Blick auf den Bürgerkrieg, der nach der Vertreibung der sowjetischen Truppen ausgebrochen war. Als Erfolge seiner bisherigen Regierungszeit nannte er die Wiedereröffnung der Schulen und die guten Beziehungen zu Afghanistans Nachbarn. Afghanistan brauche Hilfe von außen, habe aber auch etwas für die Welt geleistet, sagte Karzai: "Das Beste, was wir getan haben, ist der Kampf gegen den Terrorismus." Afghanistan sei dadurch wieder zum Mitglied der Weltgemeinschaft geworden. In seiner kämpferischen Rede versuchte er durch Appelle an die islamischen Werte der Anwesenden zu punkten. "Wir sind ehrbare Leute, und deshalb dürfen wir in der Regierung keine Bestechlichkeit erlauben", sagte Karzai. Korruption schrecke Investoren ab. Auch er behalte Geschenke, die er bei Auslandsreisen bekomme, nicht für sich, "es sind Geschenke für alle Afghanen", stellte er klar. Erst tief in der Nacht zum Donnerstag war die Wahl des Präsidiums der Versammlung zu Ende gegangen. Der angesehene Jurist Mohammed Ismail Kasimjar wurde Vorsitzender, Frauenministerin Sima Samar seine Stellvertreterin. Einige Abgeordnete zweifelten die Wahl an. Es seien mehr Stimmzettel abgegeben worden, als Abgeordnete da seien, sagte Hadschi Mohammed Tajab, der Flüchtlinge aus arabischen Ländern vertritt.
Kabul - Wie erwartete ist Hamid Karsai von der Loja Dschirga (grosse Ratsversammlung) zum Präsidenten Afghanistans gewählt worden. Karsai war bisher Chef der Übergangsregierung, die nach der Vertreibung der Taliban eingesetzt worden war. In seiner Bewerbungsrede für das Präsidentenamt vor der Loja Dschirga hatte Karsai zu Wiederaufbau, Frieden und Versöhnung aufgerufen. Afghanistan müsse seine einmalige Chance nutzen, mit Hilfe des Auslands den Wiederaufbau zu schaffen. Am Morgen hatte die Loja Dschirga ihr Präsidium gewählt. Der angesehene Jurist Mohammed Ismail Kasimjar wurde Vorsitzender, Frauenministerin Sima Samar Stellvertreterin. Einige Abgeordnete zweifelten die Wahl an.
Kabul - Der afghanische Übergangsregierungschef Hamid Karsai will als Staatschef die Korruption bekämpfen und seinem Land Einheit und Frieden bringen. "Wenn wir einig sind, werden wir Frieden haben, wenn wir uneinig sind, sind wir gar nichts", sagte Karsai (44) am Donnerstag, als er sich der Loja Dschirga als Kandidat für das Amt des Präsidenten präsentierte. Seine Wahl gilt als sicher. Seine wichtigste Gegenkandidatin ist die Kinderärztin Masuda Dschalal (34), die beim Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen als Expertin für Frauen und Gesundheit arbeitet. Es war unklar, ob noch am Donnerstag über die Besetzung des Präsidentenamts abgestimmt würde. Karsai ging auf die Herausforderung durch den fundamentalistischen Milizenführer Abdul Rasul Sajaf ein, der am Mittwoch die "Männer mit Gewehren" verteidigt hatte, indem er auf den Kampf der Mudschahedin gegen die sowjetischen Besatzungstruppen hinwies. "Wir müssen unterscheiden zwischen den Mudschahedin und denen, die unser Land zerstörten", sagte Karsai mit Blick auf den Bürgerkrieg, der nach der Vertreibung der sowjetischen Truppen ausgebrochen war. An islamische Werte appelliert Als Erfolge seiner sechsmonatigen Regierungszeit nannte er die Wiedereröffnung der Schulen und die guten Beziehungen zu Afghanistans Nachbarn. Afghanistan brauche Hilfe von außen, habe aber auch etwas für die Welt geleistet, sagte Karsai: "Das beste, was wir getan haben, ist der Kampf gegen den Terrorismus." Afghanistan sei dadurch wieder zum Mitglied der Weltgemeinschaft geworden. In seiner kämpferischen Rede appellierte er an islamische Werte wie Ehrlichkeit. "Wir sind ehrbare Leute, und deshalb dürfen wir in der Regierung keine Bestechlichkeit erlauben", sagte Karsai. Korruption schrecke Investoren ab. Er behalte die Geschenke, die er bei Auslandsreisen bekomme, nicht für sich, sagte Karsai. "Es sind Geschenke für alle Afghanen." Karsais "Ritterschlag" durch den Ex-König
Kabul. (afp) In Kabul hat er die zerstrittenen Fraktionen der Nordallianz an den Kabinettstisch gebracht, in den Hauptstädten der Welt beeindruckt er mit Eleganz und fließendem Englisch. Den Ritterschlag erteilte Hamid Karsai der frühere König Sahir Schah zur Eröffnung der Loja Dschirga: "Ich wünsche ihm Erfolg", sagte er unter dem Applaus der Delegierten. An seiner endgültigen Wahl heute zum Staatspräsidenten zweifelt niemand. Der frühere Monarch hat die Integrationsfähigkeit und Überzeugungskraft Karsais schätzen gelernt. Binnen weniger Wochen entstand ein freundschaftliches Verhältnis, das viele als Vater-Sohn-Beziehung beschreiben. Auf der Loja Dschirga schlug Karsai für seinen Mentor folglich die repräsentative Aufgabe als "Vater der Nation" vor. Nach dem Fall der pro-sowjetischen Regierung 1992 wurde er Vize-Außenminister. Als 1996 die Taliban Kabul eroberten, erwog Karsai zunächst eine Zusammenarbeit mit den Fundamentalisten. Den Kampf gegen sie nahm er 1999 auf, als diese seinen Vater ermordeten. Weil er bis zuletzt an der Front blieb, musste er sich im Dezember sogar auf der Afghanistan-Konferenz entschuldigen lassen. An der Spitze des verarmten Staates bleibt für Karsai eine Menge zu tun. Von den 4,5 Milliarden Dollar, die er der internationalen Gemeinschaft im Januar für den Wiederaufbau abtrotzte, sind bislang erst einige Millionen tatsächlich eingegangen. Vertrauen und Autorität der Kabuler Übergangsregierung reichen über die Stadtgrenzen kaum hinaus. Afghanistan ist weiter auf die Erfolge seines Hoffnungsträgers angewiesen.
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Der Blick in die Zukunft! |
Tausend Delegierte gehen aus Protest
Tumulte bei der Großen Stammesversammlung in Afghanistan: Wegen "langweiliger Reden" verließen rund eintausend Delegierte verärgert die Beratungen. Zuvor war es zu gegenseitigen Vorwürfen und Handgemengen gekommen.
17.06.2002 | Spiegel |
Kabul - Rund eintausend Delegierte der Loya Jirga in Afghanistan haben am Montag aus Protest die ihrer Auffassung nach nur schleppend voran gehenden Beratungen verlassen.
"Es gibt keinen Grund, zu bleiben und langweiligen Reden zuzuhören - darum gehen wir", sagte Sajed Nimatullah, einer der rund 1600 Delegierten. "Karzai (der neu gewählte Präsident) sollte hier sein und über wichtige Dinge wie das neue Parlament sprechen."
Hamid Karzai werde sich nach Angaben eines Beraters gegen 15.00 Uhr (12.30 Uhr MESZ) an die Delegierten wenden. In seiner Rede werde es nicht um die neue Regierung, sondern um das Parlament gehen.
Bereits am Wochenende war es auf der Großen Stammesversammlung zu Tumulten gekommen. Die Delegierten konnten sich nicht auf ein Verfahren zur Auswahl der Abgeordneten des künftigen Parlaments oder der neuen Regierung einigen. Sie vertagten die Beratungen auf Montag.
Während der Debatten habe eine angespannte Atmosphäre geherrscht, sagte ein Delegierter aus Kabul am Sonntag. Zeitweise habe es Handgemenge zwischen den Delegierten gegeben. Hunderte Redebeiträge lähmten die Arbeit der Loya Jirga. Einige Delegierte beklagten, von Milizführern unter Druck gesetzt worden zu sein. Ein Berater Karzais kündigte an, die Vorwürfe zu prüfen und gegen die Verantwortlichen mit aller Schärfe vorzugehen.
Die Loya Jirga war am Dienstag vergangener Woche zusammengekommen, um über eine neue Übergangsregierung und die Zusammensetzung des Parlaments zu entscheiden. In 18 Monaten soll ein frei gewähltes Parlament die Geschicke des Landes lenken.
Loja Dschirga streitet über Regierung und Parlament Verhandlungen zwischen ethnischen Gruppen und Staatschef Karsai verzögert / UN warnen vor zunehmender Gewalt |
17.06.2002 | Süddeutsche Zeitung |
Moskau – Wegen Meinungsverschiedenheiten ist die Loja Dschirga in Afghanistan um einen Tag verlängert worden. Die „Große Versammlung“ in der Hauptstadt Kabul hat zwar vergangene Woche einen neuen Staatschef gewählt. Die knapp 1700 Teilnehmer und der neue Präsident Hamid Karsai konnten sich bisher aber nicht über die Bildung einer Regierung und eines Parlaments einigen. In langen Reden erinnerten einzelne Delegierte an ihr demokratisches Recht auf Mitsprache bei der Gestaltung der politischen Strukturen des Landes. Die Dschirga soll am Montagabend abgeschlossen werden.
Die Verhandlungen hatten bereits mit einem Tag Verspätung begonnen. Vorausgegangen waren langwierige Absprachen über die Wahl des bisherigen Chefs der Übergangsregierung, Karsai, zum Staatschef sowie über die Machtverteilung zwischen den einzelnen Volksgruppen des Landes. Während der Versammlung wuchs Agenturberichten zufolge der Unmut der Delegierten über das angeblich undemokratische Vorgehen der bestimmenden politischen Kräfte im Land. Einer der Streitpunkte war die Frage, ob der neue Präsident die Kabinettsmitglieder selbst benennen dürfe oder ob diese von der Dschirga gewählt werden müssten. Karsai wurde mit großer Mehrheit gewählt und behält sich deshalb offenbar vor, die Minister selbst zu ernennen.
Er könne die Verhandlungen mit den ethnischen Gruppen über die Machtverteilung ohnehin nicht bis zum Abschluss der Dschirga beenden, sagte er. Das Parlament soll nicht frei gewählt, sondern aus der Loja Dschirga heraus besetzt werden. Während die Delegierten jeden einzelnen Abgeordneten wählen wollten, sprachen sich Vertreter der Regierung dafür aus, dass je zwei Repräsentanten jeder Provinz ausgesucht werden sollten. Karsai und die neue Übergangsregierung sollen das Land 18 Monate lang regieren, bis die ersten freien Wahlen stattfinden. Der amtierende Innenminister Junis Qanuni sagte den streitenden Delegierten: „Sie sind nicht gewählt worden, um Spannungen zu erzeugen und provokative Themen auf die Bühne zu bringen. Sie sind gewählt worden, um die Zukunft des Landes zu gestalten und sich für die nationale Einheit einzusetzen. Verspielen sie diese Chance nicht.“
Hintergrund des Streits ist die Machtbalance zwischen den ethnischen Gruppen. Derzeit dominiert die Minderheit der Tadschiken die Regierung des Paschtunen Karsai. Dagegen protestierten die Paschtunen; sie stehen nicht geschlossen hinter dem Staatschef. Karsai wird hingegen von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Unterdessen warnten die Vereinten Nationen vor „der alarmierenden Zunahme der Gewalt“ in Nordafghanistan. Sie drohten, ihre Hilfe in der Region um Masar-i-Scharif einzustellen. Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation wurde beschossen, teilten die UN mit. Zudem sei eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation vergewaltigt worden. Die Region um Masar gilt als besonders unsicher. Dort bekämpfen sich die Milizen zweier Warlords.
Loja Dschirga wird verlängert |
17.06.2002 | Freie Presse |
Tumulte und Einschüchterungen haben die Beratungen der afghanischen Loja Dschirga behindert. Die Große Ratsversammlung in Kabul wurde am Sonntag abgebrochen und sollte ab Montag für mindestens einen Tag fortgesetzt werden, wie Versammlungspräsident Mohammed Ismael Kasimjar mitteilte. Ursprünglich sollte die Loja Dschirga am Sonntag zu Ende gehen. Die Delegierten konnten sich jedoch nicht auf die Zusammensetzung der künftigen Nationalversammlung einigen. Der neu gewählte Präsident Hamid Karsai wollte durch informelle Gespräche mit den Delegierten verschiedener Provinzen den Streit schlichten.
Die Debatte musste wegen heftiger Debatten und Tumulte mehrmals unterbrochen werden. Beobachtern zufolge stürmten einige Delegierte aus Wut die Bühne. Paschtunen waren aufgebracht, weil sie die in Dari gehaltene Rede Kasimjars nicht verstanden.
Der EU-Beauftragte für Afghanistan, Klaus-Peter Klaiber sprach von "inakzeptablem Druck" auf einige Delegierte. Mehrere Delegierte hatten sich beschwert, dass Druck auf sie ausgeübt wurde, damit sie einen früheren Mudschaheddin-Führer zum Vorsitzenden der künftigen Nationalversammlung wählten. Ein Teilnehmer soll nach Angaben eines Diplomaten außer Landes geflohen sein, nachdem er eine Morddrohung erhalten hatte. Die Frau eines weiteren Delegierten sei bereits am Freitag vergewaltigt und umgebracht worden.
Am Montag will Karsai den rund 1600 Delegierten seine Vorstellungen über die Bildung des Parlaments und die Struktur des Staates darlegen. Karsai hatte die Bildung eines Mini-Parlaments vorgeschlagen, um der afghanischen Bevölkerung ein größeres politisches Gewicht zu verleihen.
Die Delegierten konnten sich insbesondere nicht auf die Sitzverteilung in der Nationalversammlung einigen. Die einen plädierten für ein Parlament mit 160 Sitzen, dessen Vertreter unter den Delegierten der Loja Dschirga bestimmt werden sollten. Eine andere Gruppe schlug vor, 111 Abgeordnete zu wählen, darunter jeweils zwei Vertreter aus allen 32 afghanischen Provinzen sowie 20 Frauen und etwa 25 Gelehrte.
Neben der Nationalversammlung sollte die Loja Dschirga auch ein neues Kabinett sowie einen Gerichtshof wählen. Die neue Übergangsregierung soll am 22. Juni für 18 Monate antreten und in dieser Zeit freie Wahlen vorbereiten.
Kabul platzt aus allen Nähten Rückkehr von einer Million Afghanen in ihre Heimat |
17.06.2002 | Neue Zürcher Zeitung |
Am Sonntag ist in Kabul vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR der einmillionste Rückkehrer begrüsst worden. Dem erfreulichen Rückstrom von Flüchtlingen nach Afghanistan steht die Tatsache gegenüber, dass die Infrastruktur nur schlecht funktioniert. Dazu kommen immer häufiger Anschläge auf die ausländischen Hilfswerke.
In der staubig heissen Ebene von Pol-e Kharki vor den Toren Kabuls hat am Sonntag das Uno- Flüchtlingshilfswerk UNHCR den einmillionsten heimgekehrten Flüchtling in Afghanistan begrüssen können. Filippo Grandi, der in Afghanistan die Uno-Unterorganisation leitet, nannte den unerwarteten Erfolg des Rückkehrprogramms «ein Vertrauensvotum von einer Million Afghanen für die Zukunft des Landes». Viele Afghanen warteten die gegenwärtig tagende Grosse Ratsversammlung (Loya Jirga) ab und würden bei einem erfolgversprechenden Ausgang wohl ebenfalls die Heimreise antreten. Ausserdem sind rund eine halbe Million im Lande Vertriebene an ihre Wohnorte zurückgekehrt. Neun Zehntel der Rückkehrer stammen aus Pakistan, wo aber immer noch 2,5 Millionen Afghanen verharren.
Vom Ansturm überrumpelt
Das UNHCR hatte ursprünglich für das ganze laufende Jahr mit der Rückkehr von 800 000 Flüchtlingen gerechnet. Seit Anfang März wird die Hilfsorganisation regelrecht von einem Ansturm überrumpelt, mit wöchentlichen Spitzen von 100 000 Rückkehrern. Es ist die grösste Rückführ-Aktion aller Zeiten. Doch nun geht das Geld aus. Die Geberländer haben bisher erst 69 Prozent der zugesagten Gelder überwiesen; wenn nicht demnächst die restlichen 90 Millionen Dollar eintreffen würden, so müsse die Aktion spätestens im August abgeblasen werden, sagte Grandi. Ausserdem braucht das World Food Programme 100 Millionen Dollar, um seinen Teil beizusteuern. Wenn die Rückkehraktion abgebrochen werden müsse, drohe eine neue Serie von Rückfällen ins Elend. Ausserdem müssten dringend Arbeit beschaffende Infrastrukturprogramme angepackt werden. In Pol-e Kharki, dem grössten von sieben Empfangszentren in Afghanistan, werden die Rückkehrer erst vom Uno-Kinderhilfswerk Unicef begrüsst, über die Gefahren von Minen und nicht explodierter Munition aufgeklärt und die Kinder gegen Masern und Polio geimpft. Dann erhalten sie vom UNHCR ein Handgeld von 20 Dollar pro Kopf, womit ihre Weiterreise gedeckt sein sollte. Jede Familie bekommt 150 Kilogramm Weizen, einen Eimer, zwei Wolldecken und eine Plasticplane. Im Heimatdorf sollte ihnen ausserdem Holz für eine Türe und einen Fensterrahmen abgegeben werden.
Bereits vor der Abreise aus ihrem Gastland konnten sich die Flüchtlinge bei Unicef über die Sicherheitslage in ihrer Heimatgegend und die Schulmöglichkeiten erkundigen. 55 Prozent der Ankömmlinge verbleiben aber vorerst in Kabul, weil hier die Sicherheitslage dank der Anwesenheit von 5000 Mann der Internationalen Sicherheitstruppe gut ist. Viele Familien schicken dann ein Mitglied zur Erkundung in ihr Heimatdorf voraus. Kabul ist allerdings so stark zerstört, dass der Zustrom von einer halben Million Menschen in kurzer Zeit riesige Probleme aufwirft. Die Ankömmlinge nisten sich wenn möglich bei Verwandten ein. Selbst für einfache Lehmbauten sind die Mieten in unerschwingliche Höhen geklettert.
Zunehmende Angriffe auf Hilfswerke
Sicherheitsbedenken hindern nicht nur die Flüchtlinge an einer Weiterreise in ihre Heimatdörfer, sie gefährden auch die Arbeit der internationalen Hilfswerke. Am Samstag schrieb der Gesandte des Uno-Generalsekretärs, Brahimi, einen Brief an Präsident Karzai und beschwerte sich über die Sicherheitslage in der Gegend von Mazar-e Sharif und Sholgara. Gemäss Brahimi waren in den letzten Tagen eine Anzahl bewaffnete Überfälle, Beschiessungen von Fahrzeugen und Schlägereien zu verzeichnen, die sich gegen internationale Organisationen richteten. Die bandenmässige Vergewaltigung einer ausländischen Mitarbeiterin eines internationalen Hilfswerks bildete dabei den Gipfel der Vorfälle.
In dem Brief wandte sich Brahimi an die Männer, welche diese Gegenden beherrschen: die Generäle Dostom, Atta Mohammed und Haji Mohammed Muhaqiq. Da diese Herren zurzeit im Zelt der Loya Jirga zu Kabul versammelt sind und über die Zukunft Afghanistans mitbestimmen, nutzte der Sonderbotschafter die Gelegenheit, um mit ihnen persönlich zu reden.
...werden wir von der Geschichte was lernen?
oder wird sich die Geschichte in Afghanistan wiederholen?
NEIN!!!
BITTE NICHT WIEDER!
Kommet bitte schnell Zusammen, einigt euch, sonst kommen
die Ara-Paki-Taliban sehr sehr schnell wieder zu euch!!!
...und bauet bitte jetzt das Land gemeinsam wieder auf!
Ich danke euch allen!
Gott schütze euch und Afghanistan
UND
Wenn ihr nicht einigt wird, dann kommt bald unsere Zeit!
Wir sind noch am leben!!!!
General Butler: Ruhe in Kabul ist sehr gefährdet
Afghanistans Präsident kündigt islamische Gesetze an
18.06.2002 | Berliner Zeitung |
Brigadegeneral Hubertus von Butler, scheidender Kommandeur des Bundeswehr-Kontingents in Kabul, hält die Stationierung internationaler Friedenstruppen in Afghanistan noch auf lange Zeit für unverzichtbar. Die Bedrohung des Friedens habe in jüngster Zeit eher zugenommen, sagte Butler der "Berliner Zeitung". Die Lage sei noch immer so gespannt, "dass ein kleiner Zwischenfall oder eine Provokation alles gefährden kann".
Gefahr gehe nicht nur von versprengten Taliban- und El-Kaida-Kämpfern aus, sondern auch von dem Mudschaheddin-Führer Gulbuddin Hekmatyar, der in den 1980er-Jahren den Löwenanteil der CIA-Hilfe im Krieg gegen die sowjetischen Besatzer Afghanistans erhalten hatte. Hekmatyar, erklärte Butler, werde für zwei versuchte Raketenangriffe verantwortlich gemacht. Einer habe dem Flughafen von Kabul gegolten, der andere habe das deutsche Lager verfehlt. "Wir haben uns nicht in unseren Bunkern verkrochen, sondern sind verstärkt rausgegangen, haben den Druck erhöht", erklärte Butler, "und das hat gewirkt".
Butler übergibt an diesem Dienstag das Kommando des deutschen Kontingents in Kabul an Manfred Schlenker von der Luftlandebrigade 26 aus Saarluis. Das Isaf-Oberkommando übernimmt am Donnerstag die Türkei von Großbritannien.
Aus Protest gegen die langwierigen Diskussionen in der Loja Dschirga verließen am Montag rund 1 000 Delegierte die Versammlung. Viele beklagten die mangelnden Fortschritte der Versammlung. "Wir wiederholen nur die gleichen Diskussionen", sagte der Delegierte Abdul Kader Chan aus Kandahar. "Karsai hätte früher kommen und ein ausgewogenes Kabinett vorstellen sollen." Am Sonntag waren die Beratungen nach Tumulten um die Wahlmodalitäten für ein Übergangsparlament unterbrochen worden.
Karsai gab inzwischen offenbar seinen Plan auf, von der Loja Dschirga ein Übergangsparlament bestimmen zu lassen. Stattdessen sollten acht Regionen des Landes je vier bis fünf Repräsentanten wählen, die in Kabul über die Modalitäten der Wahlen befinden sollten. Am Abend erklärte Karsai, die künftigen "Gesetze sollten auf der islamischen Rechtsprechung basieren". Er beugte sich damit Forderungen konservative Kräfte, welche die Einführung der islamischen Rechtsprechung verlangen. Ein Berater Karsais bestritt, dass die Äußerung des Präsidenten bedeute, in Afghanistan werde Dieben künftig wieder die Hand amputiert oder Ehebrecher könnten so wie in einigen Golfstaaten und Pakistan gesteinigt werden.
Die EU kündigte am Montag weitere Finanzhilfen für Afghanistan in Höhe von 9,25 Millionen Euro an.
Loja Dschirga kommt nicht voran Streit über Zusammensetzung des Übergangsparlaments in Afghanistan / Karsai will Kabinett selbst ernennen |
18.06.2002 | Süddeutsche Zeitung |
Kabul (AP) – Den Teilnehmern der Loja Dschirga in Afghanistan ist es auch bis Montag nicht gelungen, sich auf ein Verfahren für die Zusammensetzung eines Übergangsparlaments zu einigen. Zur Lösung der festgefahrenen Gespräche schlug der neu gewählte Präsident Hamid Karsai vor, aus der Mitte der Delegierten solle ein Komitee gewählt werden, das eine Kommission ernennen soll. Diese Kommission soll dann nach Abschluss der Ratsversammlung über die Form und die Mitglieder des neuen Parlaments entscheiden.
Darüber hinaus schlug Karsai vor, er werde die Mitglieder seines Kabinetts selbst ernennen. Er versicherte, das Kabinett werde „den Bedürfnissen des Volkes entsprechen“. Vor der Rede des Präsidenten hatten fast alle Delegierten zeitweise das Zelt der Großen Ratsversammlung verlassen, um gegen langwierige und ergebnislose Diskussionen zu protestieren. Viele zeigten sich darüber enttäuscht, dass Karsai keine für alle Bevölkerungsgruppen akzeptable Übergangsregierung vorgestellt hat.
Karsai erklärte dazu, die Führung der Loja Dschirga habe nicht damit gerechnet, dass die Ausarbeitung eines neuen Parlaments derart kompliziert und zeitaufwändig sein könnte. Am Sonntag hatte er versucht, in Treffen mit verschiedenen Delegierten deren Sorgen und Vorschläge zu erfahren. Ein Delegierter aus Dschalalabad, Omar Sachilwal, sagte, der Fortschritt sei gleich null gewesen. Ein Ratsteilnehmer aus Kandahar, Abdul Kader Chan, sagte, man verschwende die Zeit mit den immergleichen Diskussionen und Themen.
Im Mittelpunkt des Streits standen die Wahlmodalitäten für ein Übergangsparlament. Unklar war, ob je zwei Vertreter pro Provinz oder einer für je zehn Loja-Dschirga-Gesandte ins Parlament einziehen sollten. Im Kern geht es der paschtunischen Bevölkerungsmehrheit darum, im künftigen Parlament entsprechend ihrem Anteil vertreten zu sein. Sie sind dafür, aus jedem der 381 Bezirke des Landes einen Abgeordneten in das Parlament zu entsenden. Diese Zahl ist dem Organisationskomitee der Loja Dschirga zu hoch – ein so großes Parlament wäre zu kostspielig. Ursprünglich sollte die Versammlung bereits am Sonntag beendet werden. Sie wurde zunächst bis Montag verlängert.
Afghanistans neue Armee steckt noch in den Kinderschuhen |
18.06.2002 | Basler Zeitung |
Von Willi Germund, Kabul
Instruktoren aus Frankreich und den USA sollen innerhalb der nächsten 18 Monate tausende Soldaten für eine «Nationalgarde» ausbilden. Allerdings kommt die Rekrutierung nur schleppend voran, und es wird noch einige Zeit dauern, bis die neue Armee Afghanistans einsatzfähig ist. Bis dahin bleibt die Sicherheitslage ausserhalb Kabuls äusserst prekär.
Die Zukunft beginnt in einem kahlen Raum mit notdürftig geflickten Fenstern. Rusham Alis hockt auf einem segeltuchbespannten Schemel, ein Dolmetscher fragt ihn aus: «Hast du militärische Erfahrung?» Der schmächtige 18-jährige Junge aus der Bamiyan-Provinz verneint. Ein französischer Offizier schreibt die Antwort fein säuberlich auf einen Bogen Papier. Die fingerlangen struppigen Haare des Rekruten für Afghanistans zukünftige Nationalgarde könnten mal eine Haarbürste vertragen. Sein knielanges Hemd ist steif vom Staub.
Rusham Alis zögert nicht, als er gefragt wird, ob er freiwillig gekommen sei. «Ja», antwortet er wie aus der Pistole geschossen, während er etwas verlegen an dem Zettel mit seiner Registriernummer nestelt. Gezwungen hat ihn höchstens die Lage seiner Familie. Zu Hause warten drei Brüder, fünf Schwestern und die Eltern, die sich als Tagelöhner durchschlagen. Bei Afghanistans neuer Nationalgarde hingegen
winken 30 US-Dollar Sold im Monat – jedenfalls so lange, wie die Franzosen und US-Soldaten die neuen Bataillone trainieren.
Analphabeten unter Waffen
Ein Baum von einem Mann steht im Türrahmen. Auf den dicken Oberarmen prangen an Stelle eines Rangabzeichens zwei Worte: «Special Forces». Aber Rusham Alis wird von französischen Ausbildern, die zusammen mit den USA den Grundstein für eine neue afghanische Armee legen wollen, trainiert. Ein Riesenjob: Während der kommenden 18 Monate sollen laut Plan fast 10 000 Soldaten durch die Mangel der 100-tägigen Grundausbildung gedreht werden. Vorläufig allerdings schaffen es die Ausbilder nicht einmal, die Sollstärke von 605 Soldaten pro Bataillon zu erreichen. «Beim ersten hatten die Amerikaner 370 Mann, wir haben gegenwärtig 450», sagt Major Yvand Gouriou von der französischen 27. Gebirgsinfanteriebrigade.
Die Ausbildung der Soldaten erfolgt unter einfachsten Bedingungen. Hinter einem der vierstöckigen Gebäude der ehemaligen Militärakademie, die einst von der DDR und der Tschechoslowakei errichtet wurde, sind Pappkameraden aufgebaut. Auf dem Programm steht beim Kampftraining die Einschätzung von Entfernungen. Paarweise laufen die Rekruten in ihren Uniformen aus alten Beständen der US-Marines die Distanz ab. Stumm zählen sie ihre Schritte: 60 für 100 Meter lautet das Daumenmass.
«Unser grösstes Problem mit dieser Gruppe hat uns auch erst einmal überrascht», erklärt Major Gouriou: «Viele konnten nicht zählen.» Eigentlich müssten die Armeeausbilder Afghanistans zukünftigen Soldaten zuerst einen Alphabetisierungskurs geben. «Aber das können wir nicht», erklärt Gouriou. Die französischen Trainer haben eben nur Erfahrung in der Ausbildung von Soldaten.
«Schiessen können sie alle»
Statt Lesen und Schreiben können fast alle Rekruten schon Schiessen. «Sie sagen alle, sie hätten keine Vorkenntnisse», schmunzelt Pascal Pinget, ein stämmiger kleiner Mann mit einer breitkrempigen Uniformmütze. Er brüllt ein paar Befehle, ein Dolmetscher wiederholt die Anordnungen und eine Gruppe von zwölf afghanischen Männern wirft sich gehorsam in den Staub, zieht die Kalaschnikow an die Schulter und schiesst. Der Gewehrkolben sitzt auf Anhieb, die Beine sind so angewinkelt, wie es sein sollte. Ausbildner Pinget nickt: «Sehen Sie, schiessen können sie alle, nur mit dem Treffen hapert es.» Tatsächlich zeigen Dutzende von Staubwölkchen hinter den Zielscheiben, dass viele Übungsschüsse am Ziel vorbeigehen.
«Es wird lange dauern, bis Afghanistan eine funktionierende Armee haben wird», glaubt Major Gouriou. Seine französische Brigade wird noch eineinhalb Jahre am Hindukusch bleiben. Aber die USA wollen die Nationalgarde zunächst auf 30 000, später sogar auf 100 000 Mann aufbauen. «Die Nationalgarde wird für Sicherheit und Ordnung in Afghanistan sorgen», erklärt Ashraf Gani, der engste und wichtigste Berater von Hamid Karzai, dem Chef der afghanischen Übergangsregierung, seit einigen Wochen immer wieder auf die Frage, ob das Land mehr internationale Sicherheitstruppen braucht.
Internationale Helfer in Gefahr
Gegenwärtig sind rund 12 000 Mann der «Koalition gegen den Terror» auf der Suche nach den verbliebenen Resten von Al Qaida und Taliban. 4500 Soldaten der internationalen Afghanistan-Schutztruppe (Isaf), darunter 1200 deutsche Soldaten, sorgen für die Sicherheit in Kabul. Doch in den Provinzen haben die Kriegsfürsten das Sagen, Kommandanten, die mit ihren bewaffneten Leuten beschliessen, was geschieht.
Diese Situation stellt nicht zuletzt auch die Hilfswerke vor Probleme. «Solange es keine afghanische Armee gibt, gibt es keinen Schutz. Ohne Sicherheit aber können wir ausserhalb von Kabul nur unter grossem Risiko arbeiten», klagt Paul O’Brian von der Hilfsorganisation Care. Wie hoch das Risiko ist, musste die Mitarbeiterin einer anderen Hilfsorganisation erfahren. Sie wurde im Norden Afghanistans nahe dem Ort Pul-i-Khumri von vier Männern, die eine Strassensperre besetzten, vergewaltigt. Die Hilfsorganisation wagte den Schritt an die Öffentlichkeit erst, nachdem das Opfer sicher ausser Landes gebracht worden war. Denn die Täter gehören zur Einheit des lokalen Kommandanten und haben offensichtlich nichts zu befürchten.
Auch in anderen Gebieten im Norden Afghanistans verschlechtert sich die Lage seit Wochen. Die Büros von Hilfsorganisationen in der Stadt Mazar-i-Sharif wurden ausgeraubt. Ein afghanischer Mitarbeiter einer Gruppe wurde angeschossen. Im Ort Sara Pul flohen 1500 Bewohner eines Flüchtlingslagers in die Berge, weil die Frauen von Mujaheddin (Gotteskriegern) vergewaltigt, ihre Zelte ausgeraubt und die Männer verprügelt wurden. Insgesamt sind seit Anfang des Jahren 20 000 Menschen – überwiegend Paschtunen – aus Afghanistans Norden geflüchtet.
18.06.2002 | Standard |
Die Erdstraße nach Imam Saheb erinnert an eine Hochschaubahn. Gerne weicht man auf die flache Ebene aus, die sie durchpflügt. Man muss sich allerdings strikt an die Fahrspuren der Vorgänger halten. Die Zone ist vermint.
"Überleben sichern, Flüchtlinge ansiedeln, Wiederaufbau": So lässt sich die Strategie der internationalen Afghanistanhilfe umreißen. Unter den kleinen Organisationen der ersten Stunde war auch das Hilfswerk Austria. Seit Oktober 2001 gingen zehn Konvois mit Hilfsgütern von Tadschikistan aus über die Nordgrenze. "Unsere Zone war damals praktisch menschenleer", erzählt Faruk Said, der für Imam Saheb zuständige "Landesschulrat". 110.000 Menschen hatten sich ins Niemandsland auf die Inseln des Grenzflusses Panj geflüchtet. Bis auf etwa 1000 sind heute alle in ihre Dörfer zurückgekehrt.
"Natürlich gehe ich gerne zur Schule! Was glaubt ihr denn?", antwortet die Erstklässlerin Fausia (10) und scheint sich über die dumme Frage zu wundern. Das Hilfswerk hat in Imam Saheb eine Mädchenschule renoviert, die heute von 1200 Kindern besucht wird. Die Schuldirektorin ist gerade in Kabul. Sie ist eine der wenigen Frauen, die als Delegierte für die Ratsversammlung Loya Jirga gewählt wurden.
Es herrscht Aufbruchsstimmung in Imam Saheb. Doch nach 23 Jahren Krieg und drei Jahren Dürre sind die Herausforderungen enorm. "Die starken Regenfälle vom Frühjahr waren ein gutes Omen für den Wiederaufbau. Doch es ist, als würde ein Fluch auf uns lasten: Jetzt haben wir eine Heuschreckenplage", sagt Bauer Faruk Shah.
"Die internationale Hilfe beschäftigt sich mehr mit statistischen Erhebungen", klagt der Vertreter des Außenministeriums, in dessen Büro in Kunduz sich alle Hilfsorganisationen anmelden müssen. Es herrsche Not. Viele Familien haben nur eine Mahlzeit am Tag, und es kommt kaum noch Nahrungsmittelhilfe.
"Es tröpfelt langsam"
In der Tat: Die UNO beklagt, dass von den Hilfszusagen an die Übergangsregierung mehrere Hundert Millionen Dollar überfällig sind. Die auf der Geberkonferenz im Januar zugesagten Mittel (1,8 Milliarden Dollar für das laufende Jahr) "tröpfeln extrem langsam herein, klagt ein UNO-Mitarbeiter.
Erschwerend kommt hinzu, dass die geschätzten 3,7 Millionen Flüchtlinge schneller nach Afghanistan zurückkehren als erwartet. Seit Anfang März sind mehr als 800.000 Menschen in ihre Heimat zurückgekommen. Daher ist der Bedarf sogar höher als ursprünglich berechnet. Die Nahrungsmittelvorräte sind nahezu aufgebraucht.
"Die Maxime ,survival first' muss weiterhin gelten", meint auch der Projektverantwortliche des Hilfswerks, Patrick Hartweg: "Die Lage bleibt prekär, und der nächste Winter kommt bestimmt." Ernährungs- und Einkommenssicherheit für die Menschen zu schaffen ist das Gebot der Stunde.
Nach den heftigen Niederschlägen vom Frühjahr drohte der Damm eines Bewässerungskanals auf einer Länge von 120 Metern zu brechen. "Wir haben kurzerhand auf dem Markt um 3100 US-Dollar Draht für Steinbefestigungen gekauft und konnten damit 120.000 Familien helfen", erzählt Hartweg.
Das Hilfswerk Austria hatte für das laufende Jahr in Afghanistan 580.000 Euro zur Verfügung, 60 bis 70 Prozent davon gingen in die humanitäre Soforthilfe. Man hofft, die Aktivitäten im nächsten Jahr ausweiten zu können.
Spendenkonto Hilfswerk Aus-
tria, PSK 90.001.002, Kenn-
wort: Afghanistan
Die Loya Jirga hinterlässt Zündstoff
21.06.2002 | Kölner Stadt-Anzeiger |
Müde und erschöpft haben sich die 1600 Delegierten der Loya Jirga, der Großen Versammlung des Volkes, von Kabul aus auf die beschwerliche Heimreise in ihre Provinzen gemacht. Dass die als historisch bezeichnete Großversammlung anstrengend war, ist nicht verwunderlich. Es begann nach heftigem Zank mit einem Tag Verspätung und dauerte, unterbrochen von zahlreichen Tumulten, drei Tage länger als geplant, und das alles bei 40 Grad Hitze. Doch die Delegierten waren nicht nur erschöpft. Viel schlimmer: sie waren enttäuscht, wütend und frustriert. Denn von den Dirigenten der Loya Jirga sind massive Fehler gemacht worden. Statt den Weg für eine friedliche, vielleicht sogar demokratische Zukunft Afghanistans zu ebnen, wurde Zündstoff angehäuft, der nur zu weiteren Explosionen führen kann.
Die fast einstimmige Wahl des 44-jährigen Hamid Karsai galt von vornherein als sicher. Der schwache Paschtune ohne Hausmacht hat in den vergangenen sechs Monaten sein Land vor allem im Ausland hervorragend vertreten. Aber die Tatsache, dass der 87-jährige Ex-König Zahir Schah nicht einmal eine repräsentative Rolle etwa als „Vater der Nation“ bekam, hat unter dem Mehrheitsvolk der Paschtunen zu großem Unmut geführt. Mehr aber noch der Umstand, dass die Minderheit der Tadschiken, die als Anführer der Nordallianz die Taliban aus Kabul vertrieben haben, weiter die Schlüsselpositionen besetzt hält.
Die Delegierten hatten weder Gelegenheit, Vorschläge zu machen, noch über die Kandidaten zu diskutieren, sie durften nur noch den Arm zur Abstimmung heben. Regie führten die mächtigen Männer, die parallel in Karsais Büro tagten und deren Absprachen massiv von dem amerikanischen Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad und dem UN-Gesandten Lakhdar Brahimi beeinflusst wurden. Es heißt, die Amerikaner hätten gedrängt, den bisherigen Status quo mit der beherrschenden Stellung der Tadschiken beizubehalten.
Dieses Vorgehen widerspricht den Beschlüssen der Bonner Afghanistan-Konferenz vom Dezember. Viele Delegierte fühlten sich nicht nur von der UN verschaukelt, sondern sehen sich bereits abermals als „Hampelmänner der Amerikaner“, wie einer sagte. So ein Gefühl schafft Feindschaft. Zur Freude jener Warlords, die nicht an Frieden interessiert sind, weil sie an ihm nichts verdienen können. Die Vision von einem vereinten Afghanistan wird sich schwer verwirklichen lassen, solange eine ethnische Ausgewogenheit bei der Verteilung der Ämter nicht zu erkennen ist.
So treibt Afghanistan weiter einer ungewissen Zukunft entgegen, die so unsicher ist, dass die UN-Flüchtlingskommission davon abrät, ins Land zurückzukehren. Afghanistan ist total von ausländischer Hilfe und Unterstützung abhängig, und das wird noch lange so bleiben. Es gibt noch nicht einmal wieder eine Bürokratie, die einlaufende Hilfsgelder steuern könnte. Auch bis zum Aufbau einer eigenen Armee, die für Sicherheit im Lande sorgen könnte, werden noch Jahre vergehen. Die Enttäuschung über einen kaum irgendwo sichtbaren Fortschritt und über die misslungene Loya Jirga könnte schon bald abermals zu einer Brutstätte für Radikalismus und Bürgerkrieg werden. Es wäre deshalb dringend nötig, Karsai zu stärken, wo es nur geht.