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Info about Massuod:

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  1. http://www.gems-afghan.com/gemhunter/Ch7BoxMassoudCW.htm
  2. http://www.afghan-info.com/Politics/Massoud/AhmadShahMassoud_Page.htm
  3. http://www.arte-tv.com/special/afghanistan/dtext/menu.htm
  4. BBC http://newssearch.bbc.co.uk/cgi-bin/KSEnglish.exe?BATCHHITS=25&NUMRESULTS=1000&method=mainQuery&db0=
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Info about Panjshir :
  1. http://www.panjsher.cc.st/
  2. http://www.geocities.com/CapitolHill/Parliament/1358/
  3. http://groups.google.com/groups?q=massoud&hl=en&lr=&safe=off&btnG=Google+Search&site=groups

  1. http://google.yahoo.com/bin/query?p=Panjshir&y=y&e=143581&f=0%3A2766678%3A2718086 3A143581&r=News+and+Media&hc=0&hs=0
     


       

Lion of Afghanistan
Ahmed Shah Masood

Moderate leader with pragmatic aspirations for Afghanistan

 

Das Vermächtnis des Löwen


Ahmed Schah Massud, der Kommandeur der afghanischen Nordallianz, war der Stachel im Fleisch der radikal-islamistischen Taliban. Sein Ziel: freie Wahlen unter Aufsicht der Vereinten Nationen. Am 10. September wurde Massud Opfer eines Attentats. Kurz vor seinem Tod hatte der "Löwe vom Panshir" noch ein Interview gegeben.

Von Eugen Sorg         Frankfurter Rundschau 

Warum, Ahmed Schah Massud, sind Sie eigentlich immer noch am Leben?

"Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe. Unser Schicksal liegt in Gottes Hand."

Der afghanische Kommandant, laut Wall Street Journal der "Mann, der den Kalten Krieg beendete", auch "Löwe vom Panshir" genannt, seit 26 Jahren an der Front, Anführer der letzten Bastion gegen die Taliban, die von Pakistan gelenkten Brutal-Islamisten, Kommandant Massud lacht zum ersten Mal seit einer Stunde. Ein bubenhaftes Grinsen, das ein wenig an Robert De Niro erinnert und nicht so recht zum fatalistischen Verweis auf den Allmächtigen passt.Vielleicht haben Sie auch gut auf sich aufgepasst.

"Früher bewegte ich mich ständig. Nie blieb ich zwei Nächte am selben Ort. Noch vor dem ersten Gebet, noch bevor mich der erste Lichtstrahl des Tages für einen Piloten sichtbar gemacht hätte, war ich wach und bereits unterwegs. Ich wusste am Morgen nie, wo wir mittags und abends das Essen einnehmen und wo wir übernachten würden. Nichts wurde geplant. Und wenn ich an einem Ort ankam, unter einem Baum oder in einem Garten, und mit den Leuten sprach, um zu hören, was sie dachten, bewegten wir uns gleichzeitig langsam weiter. Darum verfehlten mich die russischen Bombenangriffe immer um sechs, zehn Stunden."

Wir treffen Massud in seinem momentanen Hauptquartier in Khwaja Bahauddin, einem staubigen, heißen, Skorpion- und Malaria-verseuchten Kaff im Nordosten Afghanistans. Bis hierhin haben ihn die vordringenden Truppen der Taliban gejagt. Der Ort liegt an der Schwemmebene des Amu Darya, an dessen anderem Ufer Tadschikistan beginnt. Von dort werden die für Massuds Nordallianz wichtigsten Güter angeliefert: Waffen und Munition aus dem Iran und Russland.

Ein Taliban-Sprecher ließ neulich verlauten, dass seine Männer noch vor Ende dieses Jahres das ganze Land erobern würden. Was ist Ihre Prognose?

"Es ist nicht machbar, was er sagt, und es ist unvernünftig. Wir haben es früher angekündigt, und wir wiederholen es heute: Es gibt keine militärische Lösung für Afghanistan."

Sie selber setzen aber seit jeher auf Krieg.

"Wir wehren uns gegen fremde Einmischung, gegen die Einmischung Pakistans, und unser Widerstand soll die Taliban zwingen, sich auf Verhandlungen einzulassen."

Er würde sich irgendwann in den nächsten Tagen Zeit für ein Interview nehmen, hatte Massud uns ausrichten lassen. Um den Termin auf keinen Fall zu verpassen, bezogen wir Stellung unter einem schattigen Ahornbaum im Garten des Hauptquartiers. Noch andere saßen da mit uns. Es spricht sich sofort herum, wenn Massud wieder im Ort ist, und alle, die irgendein Problem zu lösen haben, versuchen bei ihm vorzusprechen. Wie bei einem Khan, einem traditionellen Stammesvorsteher.

Ein Mujaheddin in abgewetzten Turnschuhen will die Bitte vortragen, dass er und seine Kameraden das Essen für die Front nicht mehr selbst von zu Hause mitbringen müssen. Ein anderer benötigt einen Transport in sein Dorf in einer entfernten Provinz, da sein Vater gestorben ist. Ein Bauer mit einem fleckigen Turban will eine Bestätigung in einer verwickelten Geschichte um einen zu hohen Brautpreis. Ein zweiter will seinen Sohn, wegen Diebstahls in Haft, nach Hause holen, da er ihn dringend für die Feldarbeit braucht. Und ein aus Kabul geflüchteter Schauspieler, der die ganze Runde mit einer grimmigen Parodie auf Mullah Omar, den Chef der Taliban, zum Lachen bringt, will die Unterstützung für einen Film über die Gotteskrieger.

Immer wieder stoßen neue Leute hinzu. Und die meisten werden im Laufe dieses oder eines der folgenden Tage in ein kleines Lehmgebäude geführt, das als Massuds Büro dient. Zwischen Kriegsplanung mit den Frontkommandanten, Unterredungen mit verschiedensten Emissären und langen Gesprächen am Satellitentelefon hört sich Massud die Anliegen der eingeschüchterten Bittsteller an. Oft kommen Letztere mit einem Fetzen Papier nach einigen Minuten wieder heraus. Massud hat persönlich eine Anordnung oder eine Bewilligung darauf gekritzelt. Einige Male sehen wir Massud kurz, wenn er Be-sucher zum Abschied zur Tür geleitet oder wenn er das Büro verlässt, um zu beten.

Er bewegt sich nie schlendernd oder plaudernd, sondern immer zielstrebig und konzentriert. Wenn er stehen bleibt, dann nur, um einen Soldaten zurechtzuweisen oder einem Kommandanten einen Auftrag zu erteilen. Keine Frage: Er ist ein Mensch, der keine Sekunde seines Lebens für etwas verschwendet, das nicht einem klar definierten Zwecke dient. Und er scheint alles selbst kontrollieren zu wollen. Von der Wahl neuer Uniformknöpfe bis zur Entscheidung über Krieg und Frieden.

Massud kam vor 49 Jahren in Jangalak zur Welt. Jangalak heißt "kleine Welt" oder "kleiner Dschungel" und liegt im Panshir, einem fruchtbaren, sanft ansteigenden Tal im Hindukusch nördlich von Kabul. Sein Vater war Offizier in der königlich-afghanischen Armee und hatte elf weitere Kinder mit drei Frauen. Massud absolvierte in Kabul das französische Gymnasium, begann ein Ingenieur-Studium, das er nach einem Jahr wieder abbrach.

Es war Ende der 60er Jahre, und auch der Campus von Kabul war von der damals weltweiten Unrast befallen. Für die umsturzfreudigen Studenten gab es zwei Optionen: Kommunismus oder politischer Islam. Massud wählte Letzteren und schloss sich dem Kreis um Professor Rabbani an, dem Islamisten, Schriftsteller und Führer der Jamiat-i-Islami-Partei.

1973 putschte sich Mohammed Daud, ein Cousin des Königs Zahir Schah, mit Hilfe der Kommunisten an die Macht. Der diktatorische rote Prinz verjagte seinen Onkel ins italienische Exil, schaffte die Monarchie ab, belohnte die Kommunisten mit Ministersitzen und begann bald mit dem Bau des ebenso berüchtigten wie gigantischen Gefängnisses von Pul-i- Charkhi, wo er seine islamistischen Feinde einkerkern wollte. Diese hatten 1975 einen bewaffneten Aufstand angezettelt, der aber in einem Debakel endete. Die Bevölkerung schloss sich den jungen Rebellen nicht an, und Daud nahm furchtbare Rache.

Der 23-jährige Massud war einer der Rebellen-Anführer gewesen. Er konnte mit Glück sein Leben retten und tauchte unter. Sein langer Krieg hatte begonnen. Daud wurde erst drei Jahre später gestürzt. Im Frühjahr '78 wurden er, seine Familie und seine Leibwache von den Kommunisten erschlagen, die aber bereits wenig später damit begannen, sich untereinander abzuschlachten. Gleichzeitig leiteten sie die marxistische Beglückung des Volkes so brutal ein, dass sich wenig später zwei Drittel des Landes in offenem Aufruhr befanden. Wobei die Erhebungen nur an wenigen Orten organisiert waren. Wie im Panshirtal, wo Massud mit seinen Getreuen ein Widerstandsnetz aufgebaut hatte...

Am Morgen des vierten Tages werden wir in Massuds Büro gebeten, einen kahlen, provisorisch möblierten Raum. Der Kommandant werde gleich hier sein, bescheidet uns ein junger, smart wirkender Mitarbeiter in perfektem Englisch. Zehn Minuten später steht Massud vor uns. Ich hatte kaum bemerkt, wie er eingetreten war und uns alle blitzschnell gemustert hatte - mit einem derart intensiven Blick, dass man ihn beinahe körperlich spüren konnte. Doch als ich seinen Blick erwidern will, schaut er vorbei und versteckt sich hinter einem abwesenden, fast schläfrigen Gesichtsausdruck. Wie einer, der sich nicht in die Karten schauen lassen will. Einer, der sehen, aber nicht gesehen werden will.

Massud ist schlank und auf eigenartige Weise elegant: das volle, sorgfältig frisierte Haar, der melierte Kinnbart, das dezent abgestimmte Graubraun seiner Feldkleidung, die Hände, gepflegt wie die eines Pianisten, die Stiefel aus weichem Leder, das herrisch-scharf geschnittene Gesicht. Sobald das Gespräch beginnt, verschwindet seine offensichtlich gespielte Schläfrigkeit sofort, und er wirkt präsent und konzentriert.

Als das kleine afghanische Bruder-Regime gefährlich zu wanken begann, fällten die Herren in Moskau einen folgenschweren Entschluss. Um den Einfluss an der Südflanke zu sichern, überquerte an Weihnachten '79 die Rote Armee den Amu Darya und besetzte Afghanistan. Der Westen war schockiert, und die Nato konterte mit der Stationierung einer neuen Generation von Langstreckenraketen mitten in Europa. Kurz nach dem Einmarsch erhoben sich in sämtlichen Regionen, in allen Talschaften, Hochebenen und Oasen die Männer zum Dschihad, zum Heiligen Krieg. Die Bewaffnung war anfangs oft abenteuerlich, mit Büchsen sogar aus der zaristischen Zeit. Es gab keinerlei einheitliche Kommandostrukturen, keine strategische Planung, keine taktische Koordination.

Afghanistan war bis dahin ein unbekanntes orientalisches Märchenland, in das Hippies reisten, um Haschisch zu rauchen, und aus dem sie den seltsamen Brauch importierten, die Matratze ohne Bettgestell direkt auf den Boden zu legen. Jetzt war es in dramatisch kurzer Zeit zum Zentrum der Weltpolitik, zur heißesten Zone des Kalten Krieges geworden. Mit angehaltenem Atem verfolgte der Westen, vor allem die Militärs, die fernen Ereignisse.

Mit mir in Massuds Büro ist der Moskau-Korrespondent des Pariser Figaro. Bevor wir mit dem Interview beginnen können, weist uns Massud mit einer kaum merklichen, aber trotzdem unmissverständlichen Geste an, die Tonbandgeräte noch nicht einzuschalten. Dann fängt er an, den Franzosen über die Situation in Tschetschenien auszufragen: Ob es einfach sei, nach Grosny zu gelangen. Ob dort immer noch gekämpft werde. In welchen Stadtteilen. Welche Partei die Leute wirklich unterstützen würde. Ob die Russen immer noch die gleiche Taktik wie in Afghanistan anwenden würden. Wer der Führer der Wahabiten sei. Ob es einen politischen Führer gebe. Er stellt kurze, zielgerichtete und präzise Fragen, ohne die Antworten zu kommentieren und ohne preiszugeben, was er bereits darüber weiß. Wie ein vorgesetzter Offizier, der einen Lagebericht abnimmt. Und der Franzose, den ich eben noch als außerordentlich redseligen Menschen kennen gelernt habe, antwortet plötzlich in einem Stakkato, als müsste er militärischen Rapport erstatten.

Es geht etwas Zwingendes, Ernstes von Massud aus, etwas, das jede Leichfertigkeit, jedes Fraternisieren oder Augenzwinkern verbietet. Die Bediensteten wagen nicht, ihm in die Augen zu schauen, aber auch die abgebrühten Frontgeneräle entwickeln eine nervöse Beflissenheit, wenn sie ihm gegenüberstehen.

Ein Foto aus dem Jahre 1985 zeigt im Vordergrund einen unbewaffneten Massud, während hinter ihm seine Truppe mit Kalaschnikows posiert. 50 Krieger, grimmige, wilde, abenteuerlich gewandete Bergler, Männer, die den Tod als Feigling verspotten. Sie alle gehorchten Massud, waren ihm ergeben, verrieten ihn nicht. Was natürlich mit seinem Rang und Ruf zu tun hatte, aber nicht nur. Massud strahlt eine innere Kraft, eine magnetische Autorität, einen überlegenen Willen aus, dem sich keiner entziehen kann und vor dem sogar die Hunde instinktiv den Schwanz einziehen. Der Mann hat Charisma.

Die westlichen Militärexperten mussten allerdings auch feststellen, dass den bärtigen Helden der letzte Schliff fehlte. Zwar wurden die Angriffe mit wilder Unerschrockenheit vorgetragen, doch die Verluste waren entsprechend hoch. Es wurde herumgeballert, aber nur wenig getroffen. Mit einer Ausnahme.

Im Panshir war es Kommandant Massud gelungen, eine moderne Truppe aufzubauen, mit modulartigen Einheiten, die auch weit außerhalb der eigenen Stützpunkte eingesetzt werden konnten. Zum Beispiel auf der Route von Mazar-i-Sharif nach Kabul, der wichtigsten Versorgungsachse von Moskaus Armee.

Die tödlich präzisen Schläge der professionellen mobilen Kommandos begeisterten die westlichen Beobachter, die in Massud einen "genialen Strategen", einen "Napoleon des Hindukusch" erkannten. Die Russen hingegen trieben sie zur Raserei. Sechs Mal versuchten sie, das Panshirtal einzunehmen - jedes Mal scheiterten sie. Massud sollte ihr größter Albtraum werden. Die Kommunisten probierten es mit einer subtileren Taktik. In Geheimverhandlungen schlossen sie mit Massud einen Waffenstillstand und boten ihm Autonomie für sein Tal an. Sie erwarteten, dass er im Gegenzug auf seine Ausfälle verzichten würde.

Bei den meisten anderen Kommandanten wäre die Rechnung aufgegangen. Die afghanische Gesellschaft gliedert sich nach Familien, Clans und Stämmen. Diese bilden den politischen Horizont, für diese kämpft man, und nicht für eine abstrakte Idee wie Nation oder Demokratie.

Massud erwies sich auch hier als außergewöhnlich. Er ließ sich ausgiebig Zeit mit einer Antwort, nützte aber die Waffenruhe sofort, um über seine Region hinaus politisch-militärische Allianzen im ganzen Nordosten zu knüpfen. Als die Sowjets ihren strategischen Irrtum bemerkten, schworen sie, Massud endgültig zu vernichten.

Der siebte Vorstoß im Frühjahr '84 war ihre größte Operation seit Beginn der Okkupation. Während 15 Tagen und Näch-ten deckten sie das Panshir mit einem dichten Bombenteppich zu. Der Höllenlärm der explodierenden Geschosse, verstärkt durch die Trichterform des Tales, muss auf dem Mond zu hören gewesen sein. Dann fielen 25 000 Rotarmisten, die man mit Helikoptern auf den seitlichen Gebirgshöhen abgesetzt hatte, in die Dörfer ein. Von den Enden des Tales bewegten sich gepanzerte Wagenkolonnen langsam aufeinander zu. Eigentlich hätte keine Maus entkommen dürfen...

Mit einem Kopfnicken signalisiert Massud, dass er bereit sei, auf unsere Fragen einzugehen. Er ist ein genauer Zuhörer. Wenn er glaubt, etwas nicht ganz verstanden zu haben, hakt er nach. Seine Antworten kommen meist prompt, er formuliert gradlinig, verständlich, ohne zu stocken. Man kann mit ihm über alles reden, er ist beweglich, aufmerksam, aber früher oder später landet er immer wieder beim selben Thema: Massud spricht am liebsten über Taktik und Strategie. Über Offensiven, Allianzen, taktische Rückzüge, Truppenmassierungen, Frontverschiebungen, Überläufer, Kriegslisten, Hinterhalte, Niederlagen des Feindes. Und immer wenn er vom Feind redet, früher von den Russen, dann von Hekmatyar, heute von den Pakistani, bekommt er für einen kurzen Moment ein hartes Gesicht.

Beim Anschauen von Fotos und Dokumentarfilmen fragte ich mich immer, was wohl in Massuds Kopf vorgehe. Er wirkte oft nachdenklich, versonnen, konzentriert wie in einem Gebet. Nun schien mir alles ganz einleuchtend. Massud dachte über den Krieg nach. So, wie ein Heiliger über Gott nachdenkt. Unablässig, bei jeder Gelegenheit. Was sind die Absichten des Gegners, wie kann ich ihnen zuvorkommen, wo kann ich ihn treffen? Massud, das war gelebte Kriegskunst.

An einem der Abende hat man uns im Hauptquartier zum Essen eingeladen. Die Tür zum Nebenzimmer, in dem Massud sitzt, ist offen. Er unterhält sich mit dem Frontkommandanten Fahim, einem dicken, kleinen Mann mit weißem Gewand und Kartoffelnase. Draußen ist es schon ziemlich dunkel, als ein Soldat Massud eine Dose Moskito-Spray hinstreckt. Massud schüttelt die Dose, dreht sich nach links, sprayt gezielt einmal hinter und einmal vor sich auf den Boden, dreht sich nach rechts und tut nochmals dasselbe. Ich brauche zwei Sekunden, bis ich verstehe. Er hat soeben ein Abwehrdispositiv errichtet. Sogar für den Kampf gegen die Mücken entwickelt er ein strategisches Konzept.

Die Sowjets stießen auf keine Gegenwehr. Das Tal war komplett leer. Gewarnt durch seine Agenten, hatte Massud einige Tage vor dem Bombardement die ganze Bevölkerung evakuieren lassen. 50000 Menschen waren seinen Männern in die umliegenden Berge gefolgt. Und noch im selben Jahr trieben die Mujaheddin die Besatzer wieder hinaus. Die Russen verloren 2000 Soldaten und versuchten nie wieder, einen Fuß ins Panshir zu setzen. Die zurückkehrenden Bewohner fanden dafür ein Desaster vor. Obstkulturen waren abgeholzt worden, Bewässerungsanlagen gesprengt, und von allen Häusern im Tal waren noch drei intakt. Der Rest war zerbombt, gesprengt, mit Flammenwerfern ausgebrannt worden. Aber Massud hatte seine Leute beschützt.

Im ganzen Land wurde an der Legende vom Löwen vom Panshir, vom Adler vom Panshir, vom unbesiegbaren Krieger weitergesponnen. Sein Bild hing nicht nur im Heimattal oder in Häusern von Tadschiken (Massud ist Tadschike), sondern auch in solchen von Paschtunen oder Usbeken oder Nuristani.

Die USA stellten dem antikommunistischen Aufstand insgesamt drei Milliarden Dollar zur Verfügung. Deren Verteilung delegierten sie bald an Pakistan. Das selber zutiefst zerrissene und von notorischen Dieben und skrupellosen Militärs regierte Land hatte alles Interesse an einem schwachen benachbarten Afghanistan. Geld verteilte es folglich nur an die Mujaheddin-Führer, die sich am gehorsamsten ihren außenpolitischen Wünschen unterwarfen.

Im pakistanischen Peshawar sammelte sich mit der Zeit ein Heer von schmarotzenden Kommandanten, die nicht mehr kämpfen, sondern sich nur noch bereichern wollten. Zum Beispiel, indem sie die für den Widerstand bestimmten Waffen umgehend auf dem Schwarzmarkt weiterverkauften. Hauptgünstling der Pakistaner jedoch war der Paschtune Gulbuddin Hekmatyar, ein hochintelligenter, aber heimtückischer und grausamer Kriegsherr, der dafür berühmt werden sollte, mehr eigene Landsleute umgebracht zu haben als kommunistische Besatzer.

Massud blieb den ganzen Dschihad über im Lande. Er kämpfte zusammen mit seinen Leuten an der Front. Nie hätte er sich vor einen fremden Karren spannen lassen. Er war stolz, eigensinnig, nicht käuflich. Der militärische Geheimdienst der Pakistaner, ISI, nahm ihn daher auch nicht auf die Liste der Begünstigten. Die Waffen, mit denen Massud und seine Leute kämpften, waren größtenteils eigenhändig vom Feind erbeutet worden. Die afghanische Bevölkerung wusste um die Machenschaften in Peshawar. Um so heller strahlte Massuds Stern.

Wir bedanken uns bei Massud für das Interview, er liest noch zwei, drei Zettel, die man ihm hingestreckt hat, als er plötzlich aufsteht und den Raum verlässt. Schnell wie üblich, ohne rechts oder links zu schauen, eilt er durch den Hof, auf seinen japanischen Geländewagen zu. Die ganze Umgebung gerät augenblicklich in Bewegung. Bedienstete springen auf, seine Bodyguards spurten los, jemand reißt die Wagentür auf, und Massud verschwindet hinter den getönten Scheiben. Ein paar Sekunden später setzt sich eine Kolonne von fünf Autos in Bewegung. Da Massud nie ankündigt, wann und wohin er geht, rennen wir einfach mit den anderen los und springen in den letzten Jeep - in der Hoffnung, Massud irgendwohin begleiten zu können.

Nach einer einstündigen, holprigen Fahrt gelangen wir auf eine von Bergketten gesäumte Hochebene. Rund 300 Soldaten machen hier Schießübungen. Es sind Neulinge - Dörfler mit sonnenverbrannten Gesichtern und struppigen Haaren. Massud nimmt ein Gewehr, macht vor, wie man schießt, lässt zwei oder drei der Soldaten schießen, kommentiert, korrigiert, lobt. Er spielt den General, der sich um seine Männer kümmert, und er scheint gerne zu spielen.

Wir fahren weiter zu einem Panzerübungsplatz. Massud klettert auf einen Tank und spricht dort oben etwa 20 Minuten mit dem Kommandanten, einem jüngeren, dandyhaften Typ. Dem Tanz seiner Hände nach zu schließen, erläutert Massud Gefechtssituationen, Angriffe, Zangenbewegungen, plötzliche Vorstöße. Der Auftritt wirkt leicht theatralisch, überinszeniert, aber wie schon bei den Schießübungen scheint sich Massud in der Rolle wohl zu fühlen.

Im Februar '89, knapp zehn Jahre nach ihrem Einmarsch, traten die letzten kommunistischen Truppen wieder den Rückzug an. Die bis dahin ungeschlagene Armee war gedemütigt worden von überwiegend analphabetischen Berglern und Wüstenbewohnern, einem Volk in Sandalen, das sich wie vor 2000 Jahren noch vorwiegend auf Eseln fortbewegte.

Wenig später sollte es auch mit dem gesamten Sowjet-Imperium vorbei sein. Der 1986 von den Sowjets installierte Präsident Najibullah, ehemaliger Chef des kommunistischen Geheimdienstes, konnte sich noch eine Weile halten. Dann wurde er verraten. General Dostam, die "eiserne Ferse" des alten Regimes, wechselte mit seinen Usbekenkriegern ins Lager Massuds. Der Weg nach Kabul war endlich frei.

Im April 1992 fuhren Massud und seine triumphierend lachenden Mujaheddin auf sowjetischen Panzern in die Hauptstadt ein. Najibullah war bereits gestürzt und verhaftet worden. Es war die Stunde von Massuds größtem Triumph. Alles schien erreicht. Doch dann sollten die Dinge einen fürchterlichen Verlauf nehmen...

Afghanistan war nie eine Nation gewesen, sondern ein fragiles und kompliziertes Gebilde aus Clans und Stämmen, die argwöhnisch darüber wachten, dass keiner den anderen dominierte. Der Krieg hatte das Gleichgewicht der Eifersucht tief gestört. Neue Gruppen waren plötzlich mächtig geworden, andere hatten Einfluss verloren. Begehrlichkeiten waren geweckt worden, Machthunger, Gier, Rachegelüste, Hass. Keiner traute mehr dem anderen, jede Gruppe vermutete, die andere wolle sie übervorteilen. Das Land war ruiniert, aber voller Waffen. Afghanistan glitt in die Hölle der Gesetzlosigkeit.

Die neue Regierung mit Präsident Rabbani und Verteidigungsminister Massud war unfähig, für sichere Verhältnisse zu sorgen. Kaum waren die beiden Tadschiken vereidigt worden, begann der paschtunische Kriegsfürst Hekmatyar, Kabul zu bombardieren. Der brutale, bauernschlaue Usbekengeneral Dostam wandte sich ebenfalls plötzlich gegen Massud, und er bekam Waffenhilfe von Einheiten der Hazara, einer mongolisch-stämmigen Minderheit aus Zentral-Afghanistan.

Mitten in der Hauptstadt tobten Artillerieduelle. Ruhigere Momente nutzten die Krieger, um zu plündern und nach Frauen zu jagen. Massud konnte verbündete Milizen nicht daran hindern, in ein von Hazara bewohntes Quartier einzudringen, um unter den Zivilisten ein Blutbad anzurichten. Und auch die eigenen, sonst für ihre Disziplin bekannten Truppen marodierten. Kabul verwandelte sich in eine Geröllhalde. Und Massuds Ansehen sank.

In einem Nachbardorf von Jangalak, Massuds Heimatort, wird jede Woche die "Botschaft des Mujaheddin" produziert, ein dünnes Blatt mit einer kleinen Auflage. Ich frage Herausgeber Afiz Mansur, welche Fehler Massud in Kabul gemacht habe. Mansur, etwa 40 Jahre alt, mit Brillengläsern so dick wie Butzenscheiben, hinter denen ein Paar streitlustige Augen blinken, überlegt nicht lange. Etliche, sagt er. Erstens habe Massud Kabul eingenommen, ohne vorher Beziehungen mit dem Ausland aufgebaut zu haben. Mit dem Resultat, dass Pakistan dachte, er habe Beziehungen zum Iran, und der Iran glaubte, er arbeite mit Pakistan zusammen. Also hätten sich alle eingemischt und ihre eigenen Fraktionen unterstützt, Pakistan zuerst weiterhin Hekmatyar, der Iran die schiitischen Hazara, die Saudis den Wahabiten Sayyaf, während Massud ganz allein da stand. Und stolz sei er geworden und arrogant, meint Mansur. "Ich bin mächtig, ich habe die Russen besiegt, ich gebe die Befehle hier" - so sei seine Haltung gewesen.

Er sei wirklich der überragende Kommandant im Lande, auch der Einzige, der die gefangenen Feinde menschlich behandelt habe. Und der Einzige, der sich nicht persönlich bereichert habe. Aber er sei Kommandant geblieben und habe sich nie zum Politiker gewandelt. Dies habe aber zu Zwist mit Kollegen geführt, mit dem Präsidenten Rabbani beispielsweise. Und weil er viel befahl, aber wenig Rat einholte, sei er kein guter Politiker gewesen. Aber Massud, sagt Mansur, habe hinzugelernt.

Kommandant Massud, sind Sie mitverantwortlich für die Zerstörung von Kabul?

"Die Männer, die ich um mich hatte, waren überhaupt nicht vorbereitet, ein Land zu regieren. Die meisten unterbrachen wegen des Kriegs ihre Ausbildung. Es gab niemanden, der die Arbeit der Behörden hätte kontrollieren können. Die Polizei besaß keine Mittel, um dem Gesetz Respekt zu verschaffen."

Man hört, dass Ihre Männer von der Bevölkerung schließlich genauso gehasst wurden wie die der anderen Milizen. Was war Ihre Rolle?

"Ich war vollständig mit dem Krieg beschäftigt und konnte den Vorgängen in meiner Umgebung nicht genügend Aufmerksamkeit schenken."

Als neue Kraft im afghanischen Bürgerkrieg tauchten im Frühjahr 1994 die Taliban auf. Von Kandahar im Süden kommend, eroberten sie in verblüffendem Tempo Provinz um Provinz, ohne Schüsse abzufeuern. Sie hatten anfangs die Unterstützung der Bevölkerung, weil sie die räuberischen Warlords entwaffneten. Und sie hatten Geld, mit dem sie die gegnerischen Kommandanten kauften. Obendrein hatte Pakistan den erfolglosen Hekmatyar fallen gelassen und alimentierte fortan die Taliban. Im Spätsommer 1996 kreisten diese Kabul ein.

Massuds Abwehrfront im Südosten der Stadt war völlig überraschend zusammengebrochen. Die Taliban hatten den Befehlshaber mit angeblich zehn Millionen Dollar bestochen. Massud realisierte, dass er die Stadt nur unter größten Opfern würde halten können. Innerhalb weniger Stunden organisierte er den Rückzug ins Panshir und gab Kabul kampflos auf.

Als die Taliban bereits an der Stadtgrenze angelangt waren, schickte Massud einen seiner Generäle zu Najibullah. Der letzte Präsident der kommunistischen Regierung wurde seit vier Jahren unter Schutzaufsicht der Uno in Kabul festgehalten. Massud bot ihm an, mit ihm die Stadt zu verlassen und ihn sicher in den Norden zu bringen. Najibullah lehnte ab. Er vertraute darauf, dass ihn die Taliban verschonen würden. Er war schließlich Paschtune, genau wie sie.

Die Taliban holten sich als Erstes Najibullah. Sie schlugen ihn und den anwesenden Bruder halb tot, warfen die beiden auf einen Pick-up und fuhren zum Präsidentenpalast. Dort kastrierten sie Najibullah, banden ihn mit einem Strick an den Pick-up und schleiften ihn mehrere Runden um den Palast. Dann endlich erlösten sie ihn mit drei Kugeln. Der Bruder wurde erdrosselt. Mit einer Drahtschlinge um den Hals hängten die Taliban die beiden Körper an eine Verkehrskanzel vor dem Palast. Sie steckten ihnen Zigaretten zwischen die Finger und in die Taschen ein Bündel Banknoten - als Zeichen ihrer Verworfenheit und Korrumpiertheit. Und als Zeichen für die Kabuler.

Über "Radio Sharia", wie "Radio Kabul" nun hieß, konnten diese schon 24 Stunden später die Gesetze der neuen Herren erfahren. Dieben würden Hände und Füße amputiert, Ehebruch würde mit Steinigung und Alkoholbesitz mit Auspeitschen bestraft. TV, Video, Fotos, Musik, Spiele (inklusive Schach), Drachen steigen lassen - alles sei verboten. Jeden Tag kamen neue Erlasse. Den Männern wurde die Bartlänge vorgeschrieben (eine Handbreit), den Frauen die Burka, also die Verhüllung von Kopf bis Fuß. Alle Mädchenschulen wurden geschlossen, Frauen durften nicht mehr studieren, nicht mehr arbeiten, nicht mehr ohne Ehemann oder männlichen Verwandten in die Öffentlichkeit.

Im ländlichen Süden entsprachen diese Vorschriften mehr oder weniger den Stammestraditionen. In der halbmodernen Millionenstadt Kabul lösten sie jedoch eine erneute Fluchtwelle aus. Vor allem die Leute mit Ausbildung verließen die Stadt, unter ihnen viele Frauen, von denen das Bildungs- und Gesundheitswesen wesentlich abhing.

Ich hatte Asef K. vor sechs Jahren in Kabul kennen gelernt und war ihm nun in Peshawar, wo er als Flüchtling lebte, wieder begegnet. Der einstige Vertraute Massuds fand nun wenig schmeichelhafte Worte über ihn. Irgendwas war vorgefallen. Aus dem Löwen sei ein Fuchs geworden, höhnte Asef; er, der immer der Jäger gewesen sei, habe aus Kabul davonrennen müssen. Dieser Macht- und Gesichtsverlust habe seine Ehre zutiefst verletzt. Massud rede zwar von Frieden, aber er sei jetzt voller Hass. Er sei egoistisch, machthungrig und sinne nur auf Rache. Asef schimpfte weiter, bis er kurz innehielt - und schließlich sagte, er sei einfach böse mit Massud. Ich solle ihm einen Gruß ausrichten und mitteilen, solange Massud ihn nicht anrufe, rufe er auch nicht an.

Kommandant, was war der Tiefpunkt in Ihrem Leben?

"Da waren zu viele traurige Ereignisse, aber jetzt sind wir gewöhnt an die Tragödie (lacht)."

Welches war der größte Fehler?

"Wer handelt, macht Fehler. Das ist die Natur des Menschen."

Etwas konkreter, bitte. Was ist zum Beispiel mit den Entscheidungen, die zum Fall von Kabul führten? Sie wurden von den Taliban überrascht.

"Wir hatten das Wissen über uns selbst, das Wissen über den Feind, wir hatten eine Vorstellung von der Zukunft, und wir waren vorbereitet auf die gefährlichen Situationen. Ich hatte absolute Kontrolle. Aber ich hatte sie nicht über die Verbündeten. Für einige war es schwierig, obige Punkte zu verstehen. Also machte ich einen Plan für sie. Aber anstatt ihren Beitrag zu leisten, suchten sie nur nach ihrem persönlichen Vorteil. Anstatt die Taliban zu schlagen, diskutierten sie, welche Posten sie übernehmen würden."

Der weitere Durchmarsch der Taliban im nichtpaschtunischen Norden verlief zwar stockender. Begleitet von shakespearschen Intrigen, von Verrat und Gegenverrat, von verwirrenden Frontwechseln und unsäglichen Gräueln, profitierten die Turbankrieger aber von der notorischen Zerstrittenheit ihrer Gegner. Mazar-i-Sharif etwa, die Hauptstadt des Nordens, wurde vom Usbeken Dostam kontrolliert. Wegen einer familiären Blutfehde verriet ihn dessen Stellvertreter an die Taliban.

Im Frühjahr '97 marschierten diese ungehindert in die Stadt ein, mussten aber bald wieder flüchten. Eine Revolte der Hazara war ausgebrochen, die sich auf die ganze Stadt ausweitete. Die Taliban verloren Tausende von Kriegern, die meist bestialisch umgebracht wurden.

Dostam, der den Taliban knapp entkommen war, sammelte seine Truppen und kehrte im Herbst nach Mazar zurück. Nach schweren Kämpfen konnte er seinen Stammesrivalen aus dem Land hinauswerfen. Inzwischen hatten aber Hazara-Milizen die Macht im Chaos von Mazar übernommen, und Dostam musste sich nach einem neuen Hauptquartier umsehen. Die Taliban warteten ab, bis der Feind sich genügend zerfleischt hatte.

Dann, im Sommer '98, marschierten sie ein zweites Mal in Mazar ein und nahmen entsetzliche Rache für die Toten des Vorjahres. Zwischen 5000 und 8000 Leute wurden erschossen, erstochen, gehäutet, in Containern erstickt.

Massud hatte den Taliban-Vormarsch immer wieder gestört, vor allem aber unermüdlich versucht, die zersprengten Kräfte neu zu bündeln. Aber erst nach dem Fall von Mazar kam ein neues Bündnis zu Stande. Im Dezember '98 versammelte er sämtliche Anti-Taliban-Kommandanten im Panshir. Die ausgezehrten Usbeken- und Hazara-Führer wie auch die Paschtunen-Kommandanten hatten gar keine andere Wahl, als den Tadschiken Massud zum Befehlshaber der vereinigten Nordallianz zu ernennen.

In der Nordallianz sind die gleichen Kommandanten, die 1992 das Land in den Abgrund geführt haben. Wieso sollte es diesmal denn besser gehen?

"Diesmal konnten sich alle Parteien darauf einigen, eine Verfassung auszuarbeiten, die soziale Gerechtigkeit bringt. Alle Volksgruppen und Stämme werden auf Grund von freien Wahlen proportional in der Regierung vertreten sein."

Was für einen Wert hat das Wort eines Mannes wie General Dostam? Er war der Bluthund der Kommunisten, wurde dann Ihr Verbündeter, um Ihnen mit Hekmatyar in den Rücken zu fallen. Dann tat er sich mit den Taliban zusammen und ist nun wieder auf Ihrer Seite.

"Das Fehlen von Vertrauen ist ein Problem in Afghanistan. Die einen sind besorgt um ihre Zukunft, die anderen wollen mehr, als ihnen zusteht. Aber trotz der Vergangenheit haben wir uns für ein gemeinsames Programm entschieden. Dieses garantiert jedem der Führer seine künftige Rolle im Land. Auch weiß jeder, dass er alleine keine Macht ausüben kann. Im Moment geht es gut voran mit der Allianz. Ich habe die Situation unter Kontrolle, ich sage, wo die Kämpfe begonnen und wo sie gestoppt werden."

Mit kräftigen Stößen paddelt der Halbwüchsige unser Floß, ein Lastwagenpneu mit aufgeschnürtem Bambusgestell, über den Kokcha. Rund drei Kilometer weiter unten, dort, wo sich ein kahler Felsen aus der Ebene erhebt, mündet der Kokcha in den Amu Darya, den Grenzfluss zu Tadschikistan. Auf der anderen Seite erwarten uns usbekische Reiter. Wir steigen um auf ihre kleinen, beweglichen Pferde und reiten durch eine paradiesische Landschaft aus Reisfeldern und Schilfdickicht, Eichenwäldern und Gärten mit Granatapfel- und Aprikosenbäumen. Schnatternde Kinder auf gescheckten Pferdchen traben vorbei und winken uns fröhlich zu. Und jedes Mal, wenn in der Nähe das Wummern der Geschütze zu hören ist, drehen sich die Usbeken lachend zu uns um, um zu sehen, ob wir erschrecken. Wir sind auf dem Weg zur Front, aber irgendwie herrscht eine Stimmung, als führen wir auf eine Hochzeit.

Am Ausgang des Dorfes Kharokh steigen wir ab. Während unsere Reiter im Schatten eines Baumes zurückbleiben, führt uns eine Gruppe Mujaheddin über ein offenes Feld. Einer zeigt mit dem Finger nach rechts. "Dort drüben, etwa eine Minute entfernt", sagt er ungerührt, "sind die Taliban. Wäre heute die Sicht nicht so schlecht, könnten wir hier nicht durch." Ich blinzle seinen Finger entlang. In kaum 300 Meter Entfernung schwimmen die Umrisse eines Unterholzes undeutlich im Dunst. Unwillkürlich ziehe ich meinen Kopf ein.

Auf beiden Seiten der Front stehen Krieger mit Bärten, auf beiden Seiten tragen die Frauen die Burka. Warum sollte jemand wie ich für die Nordallianz des Kommandanten Massud Partei nehmen?

"Wir haben eine sehr klare Botschaft. Erstens: Wir sind für freie Wahlen. Und wir sind dafür, dass die Uno diese überwacht. Zweitens: Wir lehnen den Terrorismus in jeder Form ab. Osama bin Laden ist für uns ein Krimineller. Und Sie wissen, dass es nicht einfach ist, so etwas zu sagen. Ich habe mein Leben dem Dschihad geweiht. Bin Laden war ebenfalls im Dschihad. Er ist zum Führer von extremistischen Gruppen in der ganzen islamischen Welt aufgestiegen. Ich erhielt aus Dutzenden von Orten in der Welt Anrufe. ,Du bist Muslim', sagten sie mir, ,warum bekämpfst du Osama bin Laden?' Es wäre einfach für mich gewesen, ihm zu sagen: ,Du bist nicht unser Feind, mache, was immer du machen willst, arrangiere dich mit uns.' Aber wir sind zutiefst gegen seine Überzeugungen. Drittens: Wir sind gegen das Phänomen Drogen. Zweifellos wird ein Teil der Drogen durch unser Gebiet transportiert. Sie werden aber noch durch viele weitere Länder befördert, die im Gegensatz zu uns keinen Krieg haben."

In Ihrem Gebiet wird ebenfalls Opium angebaut. Wir haben in den Dörfern Felder gesehen.

"In der Provinz Badachshan gibt es ein paar Kulturen. Ismaeliten leben dort, eine islamische Sekte, die seit Jahrhunderten süchtig sind. Sie pflanzen für den Eigenkonsum an. Aber wenn Sie nach Chay Ab ins Gefängnis fahren, finden Sie dort Rhollam Salim, den Tycoon des Drogenhandels. In einer einzigen Aktion beschlagnahmten wir bei ihm eine halbe Tonne Opium. Jetzt sitzt er bereits das dritte Jahr im Gefängnis. Trotz all seines Geldes und Einflusses."

Die Drogenkontrollbehörde der Uno ließ unlängst verlautbaren, dass die Taliban die Drogenproduktion eingestellt hätten. Aber Afghanistan ist weltweit immer noch Nummer eins der Opium-Produzenten. Woher kommt also das Opium?

"Die Taliban haben ausreichend Vorräte, um noch zwei oder drei Jahre weiter zu exportieren. Es waren im Übrigen die großen Drogenhändler, die den Produktionsstopp veranlassten, nicht Mullah Omar. Sie wollten, dass die Preise steigen. Ich habe genügend Informationen über die ganze Situation. Die großen Pflanzungen liegen im Taliban-Gebiet, in den Regionen von Jalalabad, Kandahar und Helmand. Die Taliban ziehen zehn Prozent Landwirtschaftssteuern für die Opiumfelder ein. Dann kassieren sie eine Fabrikationssteuer: 180 Dollar pro Kilo-Paket, das offiziell abgestempelt wird. Dann folgen Verkaufssteuer und schließlich noch eine Transportsteuer, wenn die Ware mit dem Flugzeug zuerst nach Kabul und dann nach Kunduz geflogen wird. Ohne Stempel und Deklarationen der Taliban passiert kein Paket die Grenze."

Lassen Sie uns noch von einem vierten Punkt sprechen: von den Menschenrechten, den Rechten der Frau.

"Sie haben selber gesehen, dass hier im Norden oder im Pandshir Frauen arbeiten und Mädchen zur Schule gehen. Wir hindern niemanden daran. Wir haben auch Schritte unternommen, um die Lage der Frauen zu verbessern. Für Sie vielleicht kleine, für ein Land wie Afghanistan aber wichtige Schritte. Wenn zum Beispiel ein Streit zwischen zwei Clans zu einem Toten führte, dann musste die schuldige Seite eine Wiedergutmachung leisten. Sie tat dies, indem sie der Opferseite ein Mädchen oder eine Frau gab. Das Mädchen wurde nicht gefragt. Ich war immer gegen diese Sitte und habe sie gestoppt. Eine Frau kann kein Abgeltungsmittel sein.

Oder ein anderes Beispiel: Wir erhielten die Information, dass ein Mädchen den Sohn eines Khans eines mächtigen Stammes heiraten sollte. Die junge Frau war aber absolut dagegen. Ich ordnete an, dass der Fall untersucht wurde. Der Khan war stark, er hatte 400 bewaffnete Männer, stand 3000 Familien vor, und er hatte das Mädchen für den Sohn ausgesucht. Ich sagte dem Khan, dass er das Mädchen nicht zwingen solle, seinen Sohn zu heiraten, und dass die Regierung ihm helfen würde, sein Gesicht zu wahren. Er kam zu mir und wollte meinen Stiefel küssen, und er sagte: ,Tun Sie, was Sie wollen, aber tasten Sie mein Prestige und meinen Ruf im Dorf nicht an. Lassen Sie mich die Heirat durchführen.' Immer wieder sagte er mir dies. Die Unterhaltung gelangte an einen toten Punkt. Logik und Commonsense halfen nicht mehr weiter. Wir mussten mit dem Einsatz von mehreren Hundert Bewaffneten drohen. Er sah unsere Entschlossenheit und änderte seinen Entschluss."

Und Sie haben einen Feind mehr.

"Reden Sie von einem kleinen Dorftyrannen, der gegen eine Armee antreten will? Ich bitte Sie (lacht)."

Nach wenigen Minuten erreichen wir den Frontposten. Der Kommandant ist ein etwa 40-jähriger Mann mit melancholischen Gesichtszügen. Er lädt uns in sein Quartier ein, eine kleine Erdhütte mit einem staubigen Teppich auf dem Lehmboden, und serviert Tee. Er sei Bauer, erzählt er, und immer, wenn die Ernte eingeholt sei, gehe er in den Krieg. Seit 20 Jahren. Er wirkt ein wenig müde. Dann tritt ein jüngerer Kämpfer in den Eingang. Er trägt eine Rakete und winkt uns heraus. Seine Kollegen stehen um ihn herum, als er Richtung Feind abfeuert - gut gelaunt wie Kinder, die Knallfrösche abbrennen. Kurz darauf meint der Kommandant höflich, es sei wohl besser, wenn wir jetzt gehen würden. Bald würde nämlich zurückgeschossen.

Eine Gruppe junger Mujaheddin spaziert mit uns ins Dorf zurück. "Habt ihr keine Angst?", wollen wir wissen. "Nein, nein", rufen sie, "die Taliban haben Angst." "Ihr wärt bereit zu sterben?" "Wir sind bereit zu sterben." "Ihr seid verrückt." "Ja, wir sind verrückt", lachen sie nur.

Die militärische Landkarte präsentiert sich heute wie in den 80er Jahren: Die Taliban kontrollieren die Städte und die Verkehrsachsen wie damals die Sowjets, und Massuds Bündnis beherrscht das schwer zugängige, gebirgige Landesinnere, von wo aus es einen Guerillakampf führt. Massud ist der Motor, das Zentrum, der Kopf. Fällt er, fällt die Allianz, und die Taliban verhängen ihr freudloses Gottesreich über ganz Afghanistan. Eine Fortsetzung des Bürgerkrieges wäre garantiert.

Was ist das Wichtigste im Leben eines Mannes, Kommandant?

"Der Entschluss. Wenn man einmal den Entschluss gefällt hat, einen Weg zu verfolgen, wird der Rest einfach. Und jetzt ist unser Entschluss, dass wir nicht den Taliban weichen. Es ist unwichtig, wie sehr wir dabei leiden."

Sie haben eine junge Frau und fünf Kinder. Sie könnten nach Duschambe, London oder Paris gehen und dort in Frieden leben. Nie daran gedacht?

"Nie."

Von geschätzten 21 Millionen Afghanen leben etwa zweieinhalb Millionen in Pakistan, anderthalb im Iran und eine in Nordamerika und Europa. Unter ihnen die meisten Gebildeten des Landes. Neben den Hazara, Tadschiken und so anderen Stämmen hat sich eine neue Volksgruppe herausgebildet, mittlerweile die größte des Landes: die Eidipis. Der Begriff stammt aus der Sprache des Internationalen Hilfswerks und ist die Abkürzung von Internal Displaced Persons, I. D. P. (Vertriebene innerhalb des eigenen Landes). Die gesamte Bevölkerung Afghanistans ist nicht einmal, sondern mehrfach vertrieben worden. Die größte und einzige funktionierende Fabrik des Landes steht in Kabul. Sie produziert Bein- und Armprothesen in allen Größen für die täglich neuen Minenopfer. Zu der Geißel des ins 24. Jahr gehenden Bürgerkrieges sind seit drei Jahren noch die biblischen Plagen Dürre, Hungersnot und Erdbeben hinzugekommen. Wer immer die Macht in Kabul erringen wird - er wird eine Katastrophe erben.

Am 10. September, kurz nach unserem Interview, wurde Massud Opfer eines Attentats. Unter dem Vorwand, ihn für eine arabische Zeitung interviewen zu wollen, hatten sich zwei islamistische Terroristen Zugang zu ihm verschafft. Im selben Raum in Khwaja Bahauddin, wo Massud uns sein letztes großes Interview gegeben hatte, zündete einer der beiden Terroristen die auf seinem Körper und in der Kamera versteckten Bomben. Der Übersetzer Massuds, zwei Bodyguards und der Attentäter wurden zerfetzt und waren sofort tot. Der zweite Attentäter wurde bei seiner Flucht aus dem Haus erschossen. Massud wurde schwer verletzt ins tadschikische Duschanbe geflogen.

Am folgenden Tag, dem 11. September, dem Tag der Terror-Attacken in New York und Washington, versuchten die Taliban die Front von Massuds Truppen zu durchbrechen, um auch noch den Rest Afghanistans unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Angriff misslang, aber Massud erlag am 12. September seinen Verletzungen. Sechs Tage später wurde sein Tod offiziell bestätigt. Noch auf dem Totenbett hatte Massud seinen bisherigen Stellvertreter Mohammed Fahim mit der Leitung im Kampf gegen die Taliban beauftragt.

 

Kommentare

 

"Ethnien, haltet zusammen!"
EXIL-AFGHANEN IN FRANKFURT

SPIEGEL ONLINE

Parallel zur Konferenz auf dem Petersberg haben sich am Wochenende in Frankfurt am Main zahlreiche Exil-Afghanen versammelt, um über die Zukunft des Landes zu beraten. Ein Teilnehmer der Konferenz, Yama Olumi, fasst für SPIEGEL ONLINE seine Eindrücke zusammen.

Frankfurt am Main - Am Anfang stand das islamische Gebet. Mit ihm begannen rund 900 Exil-Afghanen, ihrer Herkunft nach mehrheitlich Paschtunen, ihre außerordentliche Konferenz. Diskussionsleiter und Referent Mohammed Hassan Kakar, ein parteiloser Dozent an der Kabuler Universität, der nach seiner vorübergehenden Verhaftung nach dem Einmarsch der Sowjets Anfang der achtziger Jahre im Exil lebt, beschrieb für die Anwesenden im Hotel "Orient Palace" das Dilemma der gegenwärtigen Krise am Hindukusch.
Dort habe seit der "Saur"-Revolution 1978 keine Regierung, welcher ideologischrn Richtung auch immer, Fuß fassen können. Alle seien gescheitert. "Von 1992 bis 1996 hat Afghanistan Taten erlebt, die nicht mal unter Dschinghis Khan durchgeführt worden sind", skizzierte Kakar die Lage in Afghanistan vor der Taliban-Herrschaft.

Kritik an der Nordallianz

Anwar ul-Haq Ahady, der für das Wochenende von der Bonner Afghanistan-Konferenz nach Frankfurt gereist war, stimmte Kakar zu und übte Kritik an der Regierung von Burhanuddin Rabbani, der immer noch von den Vereinten Nationen als offiziell amtierender Staatspräsident anerkannt wird. Eine politische Lösung Afghanistans benötige ein Programm, die dauerhaft sein muss, unterstrich al-Haq Ahady. Diesem Programm müsse eine Strategie zugrunde liegen, die auf den langfristigen Wiederaufbau Afghanistans abziele.

"Eine neue Regierung muss nach den Plänen der Vereinten gebildet werden. Nicht der Alleingang einer Fraktion ist entscheidend, sondern der Wille des Volkes", so Ahady mit einem Seitenhieb an die Adresse der Nordallianz, die sich im Vorfeld der Bonner Afghanistan-Konferenz zunächst geweigert hatte, dann aber doch ihre Vertreter an den Rhein entsandte und sich mittlerweile explizit auch zu einem Machtverzicht durchgerungen hat.

Wer sorgt für Sicherheit ?

Breite Unterstützung fanden Ahadys Worte zum Thema Sicherheit: "Jede Regierung, die in Kabul die Macht übernehmen wird, benötigt Sicherheit. Diese Sicherheit kann nicht allein durch die Kämpfer der Nordallianz gewährleistet werden", machte er klar. Auch Fatima Gailani, Tochter des in Peschawar lebenden Stammesführer Phir Sayed Ahmad Gailani, sprach sich für die Entsendung von Blauhelmsoldaten nach Kabul aus, um die Sicherheit einer künftigen Übergangsregierung zu gewährleisten. "Sicherlich werden keine ausländischen Truppen von den Menschen in Afghanistan richtig akzeptiert, aber wir haben derzeit keine andere Wahl", fügte sie hinzu.

Zum Thema der Frauenbewegung äußerte sich Gailani zuversichtlich: "In Zukunft wird in Afghanistan die Frauenbewegung große Veränderungen spüren. Wir haben uns in Bonn darauf einigen können, dass den Frauen eine wichtige Rolle zugeteilt wird. Diese Rolle werden sie im Einklang mit dem Islam einnehmen".

Die Frauen-Frage

Eine Afghanin, die die Herrschaft der Nordallianz in den Jahren 1992 bis 1996 als besonders frauenfeindlich erlebt hat, berichtete, dass in diesen Jahren vor allem junge Frauen und Mädchen Opfer der anarchistisch herrschenden Soldaten von Präsident Rabbani geworden seien. Um eine Wiederholung dieser Ereignisse auszuschließen, müsse daher eine Regierung unter der Führung Präsident Rabbani auf jeden Fall verhindert werden, forderte die Frau nachdrücklich.

Harsche Kritik übte so mancher Konferenzteilnehmer im "Orient Palace" an der Vorgehensweise der USA im Afghanistan-Krieg. Die Bombardierung afghanischer Städte und Dörfer sei nicht legitim - auch nicht, um die Taliban zu bezwingen. Bei den gesuchten Terroristen handele es sich zudem um einstige Verbündete im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer, so genannte "Freiheitskämpfer", argumentierten sie.

Auch die Machtübernahme der Nordallianz wurde wegen ihrer skrupellosen Gewaltanwendung kritisiert. Ein aufgebrachter Zuhörer äußerte seinen Unmut, indem er auf die Waffen und das militärische Gerät der Nordallianz verwies, das allesamt den Sowjets während ihrer Invasion gedient hätte. Vor allem aber die Einmischung der entsendeten russischen "Hilfsarbeiter" in Afghanistan erhitzte die Gemüter der im Saal debattierenden Afghanen - die Präsenz der sowjetischen Armee ist allen noch in allzu schlechter Erinnerung.

Zum Abschluss riefen die versammelten Afghanen zur Einheit der Ethnien in ihrem Heimatland auf. Bei allen Unterschieden und Zwistigkeiten, so der Tenor, müsse an die friedliche Zukunft des Landes geglaubt werden.

 

"Der Glaube an die Hoffnung"
Afghanistan kennt nur traurige Geschichten: Die Schriftstellerin Spojmai Zariab in Hannover

Hannoversche Allgemeine (Stefan Stosch)

Es muss eine Zeit gegeben haben in der afghanischen Literatur, da erzählten die Geschichten von Freude, Liebe und vom Glück des Augenblicks. Diese Zeiten sind seit mehr als zwei Jahrzehnten vorbei, seit 1979, als die Russen Afghanistan besetzten und der endlos scheinende Krieg begann, der mit amerikanischen Bomben bis heute seine Fortsetzung findet. Heute handeln afghanische Geschichten von „kleinen Männern“, die von ihren Müttern in Kammern versteckt gehalten werden. Die Mütter haben Angst, dass ihre heranwachsenden Söhne als Soldaten in irgendeinen Kampf gezwungen werden. Wenn der „kleine Mann“ in seinem Versteck tagträumt, dann taucht sein grauer Esel vor seinen Augen auf, den eine Explosion in Fetzen zerriss. Afghanistan ist das Land, in dem eine Kammer die bessere Alternative zum Überleben ist.

Ihre Geschichte „Der Ausweis“ mag fiktiv sein, sagt die afghanische Autorin Spojmai Zariab, „aber ihre Wurzeln hat sie doch in der sehr traurigen Realität“. Von dieser Wirklichkeit müsse sie schreiben. Sie könne den Themen Schmerz, Trennung, Trauer, Flucht genauso wenig entkommen wie ihre in aller Welt verstreuten Kollegen.

Sieben Millionen Afghanen leben im Exil. Vor zehn Jahren, also noch bevor die kulturfeindlichen Taliban die Herrschaft in dem schon geschundenen Land übernahmen, verließ die 1949 in Kabul geborene Autorin Zariab ihre Heimat. Sie ging mit ihren damals zwei Töchtern nach Montpellier. Ihr Mann folgte ihr 1994. Für ihre mittlerweile drei Töchter ist Afghanistan die Fremde. Alle Freunde der Familie haben das Land verlassen.

Zurzeit wird Zariab oft eingeladen, um ihre traurigen Geschichten vorzustellen. Nach Brüssel oder Madrid ist sie gereist – und am Donnerstag nach Hannover. Der während der Weltausstellung gegründete Verein Global Partnership veranstaltete eine Benefiz-Gala mit Künstlern aus Hannover und Afghanistan. Gesammelt wurden mehr als 30000 Mark – darunter ein Scheck von 25000 Mark von der Evangelischen Landeskirche Hannover – für das Expo-Projekt „Friedenshaus Kabul“. Von Landminen verstümmelte Kinder sollen hier Mut für die Zukunft schöpfen.

Natürlich wird Zariab vor den rund 400 Besuchern in der Marktkirche gefragt, wie sie die Konferenz auf dem Petersberg beurteile. Ja, das sei eine „historische Chance“, sagt Zariab. Und, ja, sie hoffe auf ein friedliches Afghanistan, in dem die verschiedenen verfeindeten Gruppen vergessen, was sie einander antaten. Ohne Frauen im öffentlichen Leben habe das Land keine Zukunft. Zuvor im Gespräch hatte die Autorin noch etwas hinzugefügt: Sie spreche bewusst von „Hoffnung“, nicht von „Glauben“. Wie solle sie Versprechungen glauben in einem Land, das über Jahrzehnte zerstört worden sei? Die Sowjetunion und die USA hätten Afghanistan als Schlachtfeld im Kalten Krieg benutzt. Zwanzig, vielleicht dreißig Millionen im Westen produzierter Landminen lägen heute in Afghanistan herum.

Und dann hat Zariab – so wie später unter Applaus in der Marktkirche – gesagt: „Es gibt im 21. Jahrhundert keinen Grund, der es erlauben würde, Bomben auf irgendein Land zu werfen.“ Als die amerikanischen Bomben gleichzeitig mit Lebensmittelpaketen über Afghanistan fielen, da hätten diese Szenen wahnsinnig surrealistisch gewirkt – ähnlich wie in Mohsen Makhmalbafs Film „Kandahar“: Da segeln Prothesen an Fallschirmen durch die Luft, und unten hasten humpelnd Beinamputierte auf die kostbare Lieferung zu.

Afghanistan sei in den sechziger und siebziger Jahren ein fortschrittlicher Staat in der islamischen Welt gewesen, Kabul eine weltoffene Stadt. In Zariabs Erinnerung gingen die Frauen unverschleiert durch die Stadt, sie hätten als Busfahrerinnen, Lehrerinnen oder Ärztinnen gearbeitet. Zariab ist schockiert, wie heute das Ausland über ihr angeblich so unzivilisiertes Land rede, in dem einst ins Persische übersetzte internationale Literatur zu haben gewesen sei.

Irgendwann will Zariab wieder nach Afghanistan zurückkehren, vielleicht sogar mit ihren Töchtern. Denn einer Überzeugung bleibt sie auch nach zehn Jahren im Exil treu: „Wenn man aufhört zu hoffen, hat das Leben keinen Sinn mehr.“ Ob sie in diesem Fall an die Hoffnung glaubt, hat sie nicht gesagt.

Spenden unter: „Friedenshaus Kabul“, Deutsche Bank Bonn, Konto: 0748111107; Bankleitzahl 38070024.

Bücher von Spojmai Zariab sind bislang nur auf Französisch zu haben: „Ces murs qui nous écoutent“, Inventaire; „La Plaine de Caïn“, Editions de l‘Aube.

 

Der Optimismus hat sich schnell verflüchtigt"

PRESSESCHAU (Spiegel)

Die Mailänder Tageszeitung "Corriere della Sera" über die Entwicklung in Afghanistan und die Aussichten für die Konferenz in Bonn:
"Das herrschende Chaos scheint George W. Bush Recht zu geben, der gewarnt hat, dass 'das Schlimmste noch bevorsteht'. Mit Sicherheit hat die plötzliche Beschleunigung der Ereignisse nach dem 13. November (als Kabul eingenommen wurde) die Anti-Taliban-Koalition auf dem falschen Fuß erwischt. Es nützt wenig, wenn man heute feststellt, dass nur eine starke militärische Bodenpräsenz der Alliierten den derzeit stattfindenden Kontrollverlust verhindern hätte können. [...] Die Diplomatie gibt nicht auf, aber es gibt viele und begründete pessimistische Stimmen. Ist es vernünftig, die Regeln für die Zukunft zu bestimmen, während sich auf dem zersplitterten Territorium täglich zwei Kriege überlappen, jener gegen Bin Laden und jener um die interne Macht?"

Die liberale britische Zeitung "The Guardian" zur Strategie der USA in Afghanistan:

"Die Entsendung von europäischen und amerikanischen Bodentruppen nach Afghanistan ist - im Endeffekt - von US-Präsident George W. Bush gestoppt worden. Großbritannien konnte nicht allein handeln. Das Zögern der USA hat Premierminister Tony Blair in Verlegenheit gebracht. Es ist potenziell eine Katastrophe für Afghanistan. Auch an der diplomatischen Front lässt die Führungsstärke von Bush zu wünschen übrig. Die USA haben ihr Versprechen an Pakistan - und andere - gebrochen, indem sie der Nordallianz einen überproportionalen Einfluss auf die Bildung einer neuen Regierung in Afghanistan erlaubt haben. Dies könnte zu Problemen führen. Die europäischen Verbündeten von Bush haben auf die jüngsten Durchhaltereden von Bush zurückhaltend reagiert. Ihr relatives Schweigen sollte Bush veranlassen, mehr auf sie zu hören."

Die konservative französische Tageszeitung "Le Figaro" (Paris) zur Entwicklung in Afghanistan:

"Schnell verflüchtigt hat sich der Optimismus, den der Fall von Kabul unter den Verbündeten in der Anti-Terrorismus-Koalition hervorgerufen hatte. Pakistan steckt zurück. Dort hatte man geglaubt, dass die USA eine feindselig gesinnte politische Kraft in Kabul nicht zulassen würden. Die alten Gegner sind also wieder in Kabul zurück.

Die Franzosen, aber auch die Engländer und die Deutschen, sind alle davon ausgegangen, an diesem Krieg teilzunehmen, sehen sich jetzt aber auf Statistenrollen reduziert. Weder die Amerikaner noch die Nordallianz wollen die Truppen der Europäer dort ankommen sehen. Von einer Hand voll Royal Marines auf dem Flughafen von Bagram und vielleicht von einigen britischen Kommandos abgesehen hat bislang noch kein europäischer Soldat den Boden Afghanistans betreten."


Die linksliberale spanische Tageszeitung "El Pais" zu der Entwicklung in Afghanistan und der Jagd auf den Terroristenanführer Osama Bin Laden:

"Der Verlauf des Krieges hat die Statur des saudischen Terror-Apostels kleiner werden lassen. War er nach dem 11. September für das Hirn gehalten worden, das in der Lage war, sich die Zerstörung der Werte der westlichen Welt auszudenken, hat er sich inzwischen in einen größenwahnsinnigen Flüchtling, in den Guru einer sich auflösenden Sekte verwandelt. Die von ihm aufgezeichneten apokalyptischen Botschaften sind verstummt, und Demonstrationen seiner Anhänger, vor allem in Pakistan, gibt es auch nicht mehr. Mit der Schließung ihrer Botschaft in Islamabad hat dieses Land den Taliban nun die letzte Tür zugeschlagen."

Das österreichische Massenblatt "Kronenzeitung" erwartet ohne ein Ende der Kämpfe in Afghanistan auch eine Verbesserung der internationalen Wirtschaftslage:

"Es ist grotesk, dass ein versponnener und fanatischer Milliardär, der sich jetzt in irgendwelchen Höhlenregionen verborgen hält, schuld daran ist, dass die Wirtschaft der hochentwickelten OECD-Länder zum ersten Mal seit 20 Jahren einen Schrumpfungsprozess erlebt. Die Schockwellen des 11. September haben wir alle zu spüren bekommen, und sie wirken immer noch nach. Die Weltwirtschaft war ohnehin etwas aus der Balance geraten, als sie diesen brutalen Stoß erhielt. Neben den Menschenopfern und den unmittelbaren materiellen Schäden hat der Terrorschlag eine weltweite Unsicherheit erzeugt, die jede positive Entwicklung hemmt. Denn so lange Krieg herrscht, fehlt das dringend nötige Zukunftsvertrauen."

Die Welt nach der Schlacht

Von Dominique Moisi, Paris Financial Times

Gewinner und Verlierer des Anti-Terror-Kriegs zeichnen sich ab: Russland profitiert, Staat und Nationalismus erleben eine Renaissance. Die Uno aber hat stark an Einfluss verloren - und ebenso die Nato.

Die Strategie der USA hat funktioniert. Überraschend vielleicht sogar für jene, die sie entwickelt haben - und enttäuschend für viele Kritiker. Die Schlacht gegen die Taliban ist gewonnen, aber der Kampf gegen den internationalen Terrorismus geht weiter. Er wird den Beteiligten über eine sehr lange Zeit viel Stehvermögen und Energie abverlangen. Zwei Monate sind seit dem Angriff auf New York vergangen. Genug Zeit, um Abstand zu gewinnen für eine Analyse der neuen weltpolitischen Situation.

Zu den Gewinnern gehört eindeutig die Institution des Staates. Seit dem Kalten Krieg schien der Staat an Legitimation und Einfluss zu verlieren. Im Wettbewerb mit der Zivilgesellschaft und den multinationalen Konzernen geriet er zusehends ins Hintertreffen.

Jetzt hat die Sicherheit der Bürger wieder Priorität, und der Staat ist zurück im Geschäft. Das bedeutet nicht, dass er seine neue Stärke dazu nutzen sollte, die Wirtschaft zu dominieren - das Gebiet, auf dem sein schwindender Einfluss am deutlichsten spürbar war. Die Menschen wollen, dass der Staat ihnen Schutz bietet in einer komplexen und gefährlichen Welt. Sie wollen nicht wie unmündige Kinder behandelt werden.

Amerika ist gestärkt

Mit der Rückkehr des Staates werden auch die Nation und die positiven Seiten des Nationalismus wieder entdeckt. Die Amerikaner haben ihre Widerstandskraft als Volk dadurch demonstriert, dass sie sich um ihre Fahne und ihre Werte versammelten. Amerika ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen.

Ein vergleichbares Selbstvertrauen hat in Westeuropa mitunter gefehlt. Hier haben die Medien offenbar schon nach drei Wochen den Glauben an den Sinn des Krieges verloren. Wie Fernsehzuschauer, die hektisch durch das Programmangebot zappen, konzentrierten die Kommentatoren ihre Kritik eifrig auf Fehler und Menschenopfer, die bei den Angriffen amerikanischer Bomber entstanden sind. Viele schienen geradezu erschüttert über die Bilder von jubelnden Menschen aus dem befreiten Kabul.

Der Kontrast zwischen der fehlenden moralischen Substanz der Medien und der standhaften Unterstützung auf Regierungsebene könnte nicht größer sein. In Frankreich zum Beispiel ist die erste Solidarität der Medien langsam einem ungestümen und unreifen Antiamerikanismus gewichen. So viel zur transatlantischen Einigkeit.

Putin einer der Gewinner

Zweifellos ein Gewinner der letzten beiden Monate ist Präsident Wladimir Putin. Unter seiner festen Führung hat Russland einen strategischen Schritt gemacht - vielleicht der wichtigste Wendepunkt dieser Zeit, egal was als Nächstes passiert. Russland ist jetzt Teil des Westens und wird zu einem schwierigen, aber wichtigen strategischen Partner der USA. Die gemeinsamen Interessen sind stärker als alle Rivalitäten.

Gut für Washington - aber nicht für die Nato, die immer mehr zu einem unerwarteten Opfer des 11. September wird. Ihre geografische Mission und ihre Hauptaufgaben passen nicht zu den Anforderungen des Krieges in Afghanistan. Nach der bühnenreifen Demonstration europäischer Solidarität wurde die Allianz von Washington deutlich ignoriert. Aus Gründen bürokratischer Trägheit wird die Nato überleben. Sie riskiert jedoch, zu einer aufgewerteten Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit russischer Beteiligung umgewandelt zu werden.

Der Europäischen Union ist es besser ergangen. In der neuen Arbeitsteilung der USA ist sie verantwortlich für Recht und innere Sicherheit - und spielt damit eine wesentlich wichtigere Rolle als die Nato. Dennoch könnte der Unterschied zwischen Europas erklärten Zielen und seinen bescheidenen bisher erreichten Erfolgen nicht größer sein. Jetzt, da Washington die Stärke seiner Luftstreitkräfte bewiesen hat, ist es an den europäischen Staaten, die humanitäre Rolle des Polizisten zu spielen. Hätte dies nicht die Rolle der Uno sein sollen?

Die Uno als Krankenschwester

Die Vereinten Nationen werden in der Zeit nach den Taliban eine bedeutende Aufgabe übernehmen, die jedoch eher der des Roten Kreuzes entspricht als der eines Friedenswächters. Zu präsent ist die Erinnerung an die Fehlschläge in Bosnien und Somalia sowie die Sorge, dass ihre Mitglieder sie im Stich lassen könnten.

Daher hat die Uno sich gegen eine friedenserhaltenden Mission entschieden, die sich zu sehr nach einer friedenserzwingenden anhörte. Die Zeit war zu kurz, als dass sie eine dafür ausreichende Blauhelm-Truppe hätte zusammenstellen können - obwohl die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates diese wahrscheinlich einhellig unterstützt hätten. Vernünftige Zurückhaltung oder verschenkte Möglichkeit?

Abgesehen von den amerikanischen Opfern des Terrorismus hat die afghanische Zivilbevölkerung mehr als jeder andere unter dem Krieg zu leiden. Wenn alles gut geht, sollte sie am meisten von den Entwicklungen der beiden letzten Monate profitieren: Sicherheit statt Fanatismus, politischer Unruhe und absoluter Armut. Dies könnte der beste Garant für Stabilität in der Region sein.

Die einfachste Aufgabe wurde erreicht: Die Taliban sind entmachtet. Doch der Rest - die Gefangennahme Osama Bin Ladens und insbesondere der Krieg gegen den Terrorismus - erfordert erheblich mehr Entschlossenheit. Kann der Westen den Mut Winston Churchills aufbringen, gepaart mit der klugen Großzügigkeit George Marshalls? Beide Eigenschaften werden in den nächsten Wochen gebraucht.

Der Autor ist stellvertretender Direktor des Institut Francais des Relations Internationales in Paris.

 

Afghanische Lektionen
Amerikaner, Pakistaner und Mudschaheddin müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.


Von Andreas Bänziger Süddeutsche Zeitung

Nun marschieren also Truppen der Hazara aus Zentral-Afghanistan auf Kabul. Sie sind Mitglieder der Nordallianz, aber mit den Tadschiken, die heute die Hauptstadt allein kontrollieren, haben sie sich früher in Kabul jahrelange Kämpfe geliefert; jetzt wollen sie sich bei der Neuverteilung der Macht ihr Stück vom Kuchen sichern.

In Dschalalabad im Osten, der Stadt, die den Zugang zu Pakistan kontrolliert, haben paschtunische Taliban-Gegner die Macht ergriffen, die sich nun nicht einigen können, wer das Gebiet regieren soll.

Und auch aus dem paschtunischen Süden hört man, dass sich die lokalen Kommandanten nach dem Zusammenbruch der Taliban wieder selbstständig machen.

Alles wie gehabt: Nach dem demütigenden Abzug der Sowjetunion im Jahr 1989 und noch mehr nach dem Sturz des ex-kommunistischen Präsidenten Nadschibullah im Jahr 1992 hatten die siegreichen Mudschaheddin nichts anderes zu tun, als übereinander herzufallen.

Damals wie heute fehlte ein politischer Entwurf, der die widerstrebenden Kräfte hätte einbinden können.

Aber ein paar wichtige Faktoren sind heute doch ganz anders als nach dem Abzug der Sowjets, und diese Faktoren lassen Hoffnung aufkommen.

Ganz anders ist vor allem die Rolle der USA. Washington hatte zwar den Guerillakrieg gegen die Sowjetunion finanziert, aber als die Sowjets weg waren, haben sich die Amerikaner um Afghanistan nicht mehr gekümmert. Das war zu Zeiten von Bush senior.

Zu Zeiten von Bush junior ist das anders. Die USA haben, zum Teil als direkte Folge der früheren Versäumnisse, Anlass, Afghanistan todernst zu nehmen. Und sie tun es: Sie übernehmen eine Führungsrolle, und sie versprechen glaubhaft, sich nicht einfach wieder abzuwenden, sobald sie bin Laden haben.

Völlig anders ist heute auch die Rolle Pakistans. Zur Zeit des Krieges gegen die Sowjetunion hatte Islamabad stets versucht, mit den Dollar-Milliarden, welche ihnen die Amerikaner und deren Geheimdienst CIA ohne große Auflagen zur Verfügung stellten, ihr eigenes Süppchen am Kochen zu halten.

Mit ihrer Unterstützung für Gulbuddin Hekmatyar, einem Fundamentalisten fast wie Taliban-Chef Mullah Omar, sabotierten die Pakistaner den Ausgleich unter den Mudschaheddin und munitionierten den Bürgerkrieg.

Der pakistanische Geheimdienst ISI hat auch die Taliban aufgebaut. Allerdings ließ Präsident Pervez Musharraf die Extremisten nach dem 11. September fallen. Heute akzeptiert und befürwortet Pakistan eine breit abgestützte Regierungsformel, die nicht nur die Paschtunen (von denen es in Pakistan mehr gibt als in Afghanistan), sondern auch die Minderheiten im Land einschließt. Pakistan macht sich für Ausgleich stark.

Zum dritten interessiert sich auch die Weltöffentlichkeit heute für Afghanistan in einem Maße, das vor dem Schrecken von New York und Washington nicht denkbar gewesen wäre.

Zwar haben die Vereinten Nationen es nicht geschafft, fristgerecht einer politischen Lösung für Afghanistan nach den Taliban den Weg zu ebnen. Das war auch kaum möglich. Aber die UN sind präsent. Die Weltgemeinschaft versucht, vielleicht sogar mit dem Einsatz von Truppen, die das Machtvakuum überbrücken könnten, die Lage zu stabilisieren.

Hinzu kommt der wohltuende Effekt der humanitären Hilfe, die jetzt im großen Stil anlaufen soll. Wenn die Briten den Flughafen von Bagram bei Kabul sichern, der stets im Zentrum der Kämpfe in Afghanistan stand, leisten sie einen Beitrag nicht nur zur Hilfe an eine von einer Hungerkatastrophe bedrohte Bevölkerung, sondern auch zur militärischen Stabilisierung der Lage.

Und vielleicht, aber das muss sich erst noch bestätigen, vielleicht haben die afghanischen Akteure von damals, die sich jetzt wieder nach vorne drängen, auch etwas dazugelernt. Das wäre das wichtigste neue Element. Denn man kann Afghanistans Probleme nicht per Diktat von außen lösen, und sei es noch so wohlmeinend.

 

Der unkontrollierbare Alliierte

Von Matthias Gebauer Quelle Spiegel Online

Für ihren Kampf gegen den Terror stellten sich die USA mit Bomben und Waffen an die Seite der afghanischen Nordallianz. Meldungen über Mord und Totschlag der aufgerüsteten Krieger zeigen, dass sie längst nach eigenen Interessen agieren und unkontrollierbar sind. Doch das ist keine Überraschung.

Die US-Militärs haben ihren Dienst getan. Mit Bombenteppichen und Spezialkräften erreichte die Weltmacht, was die Nordallianz allein jahrelang erfolglos versuchte: Mit atemberaubender Geschwindigkeit überrollen die Kämpfer in diesen Stunden Afghanistan. Panzer fahren durch die Straßen Kabuls, die Taliban flüchteten bei Nacht und Nebel. Die Nordallianz nimmt das als uneinnehmbar geltende Afghanistan im Sturm. Schon in kurzer Zeit wollen sie auch die Taliban-Hochburg Kandahar stürmen.
Eigentlich müsste also alles in bester Ordnung sein. Doch schon vor dem Sturm auf Kabul ließen George Bush und seine Generäle zum ersten Mal in den mittlerweile sechs Kriegswochen Zweifel erkennen. Die Nordallianz solle vor der Einnahme Kabuls doch noch warten, hieß es bei Pentagon-Pressekonferenzen. Und auch der sonst uneingeschränkt solidarische deutsche Außenminister Joschka Fischer mahnte schon vor der Einnahme Kabuls vor einer vorschnellen Machtübernahme durch die Nordallianz. Die zukünftige Regierung Afghanistans müsse multiethnisch sein, mahnte Fischer.

Die Zweifel waren berechtigt. Kaum sind Masar-i-Scharif und Kabul eingenommen, zeigt sich, wie die Kämpfer der Nordallianz ihren Sieg feiern. Taliban-Anhänger werden massakriert, die Horden der ausgehungerten Kämpfer ziehen plündernd durch die Straßen. Die enthemmte Soldateska rasiert Männern die Bärte ab und fesselt sie auf der Straße für die Schaulustigen. Überraschen tut das nicht. Denn dass der ohnehin als skrupelloser Schlächter bekannte General Dostam in Masar-i-Scharif noch einige Rechungen offen hatte, war bekannt. Aus seinen vorher als friedliebend, schlecht ausgerüstet dargestellten Freiheitskämpfern wurden so in wenigen Tagen echte Kriegsherren und brutale Sieger.

In Afghanistan gilt die Regel eines jeden Krieges: Ein Verbündeter ist so lange ein Freund, wie er Vorteile mitbringt. Nach dem nahen Sieg über die Taliban haben die USA der Nordallianz da nicht mehr all zu viel anzubieten. Waffen haben die Kämpfer mittlerweile genug und Macht obendrein. Und warum sollten die Krieger nach jahrelangem, zehrenden Kampf jetzt plötzlich wieder auf einen anderen hören? Noch dazu, wenn es ein Ungläubiger aus dem fernen Westen ist? Auf dem Höhepunkt ihres Erfolges haben die diversen Kommandeure nun erst mal ihre Hierarchie zu ordnen. Einmischung von außen stört da nur.

Doch nicht nur wegen der erschreckenden Bilder von den Lynchmorden stellt sich die Frage, was eigentlich hat der Krieg für die USA und ihre Alliierten bisher gebracht? Die Nordallianz-Truppen haben die Hauptstadt Kabul eingenommen, eine zerstörte Stadt. Bald werden sie auch Kandahar stürmen, die Hochburg der Taliban. Doch die Gotteskrieger sind noch lange nicht besiegt, sie haben sich längst in die Berge zurückgezogen und bereiten in aller Ruhe den Guerilla-Kampf vor. Für den Kampf gegen einen übermächtigen Feind haben sie im Krieg gegen die Sowjets reichlich Erfahrung gesammelt: Kleine Angriffe, Hinterhalte und Bombenattacken werden ihre Mittel bleiben - zur Not über Jahre und Jahrzehnte.

Und auch von ihrem Hauptziel ist die internationale Koalition gegen den Terror weit entfernt. Denn von dem vermeintlichen Terror-Drahtzieher Osama Bin Laden fehlt weiterhin jede Spur. Und die wird man weder in Kabul noch in Kandahar finden, auch wenn jeder Stein umgedreht wird. Ohne einen Überläufer aus den Taliban-Reihen wird das auch so bleiben. Solange Bin Laden noch eine Hand voll Kämpfer hat, wird ihn auch eine noch so übermächtige Nordallianz nicht finden oder besiegen, und auch die High-Tech-gestützten Amerikaner werden sich schwer tun.

Aus diesem Grund kann Bin Laden die Lage absolut gelassen sehen. Die Amerikaner sollen die Städte ruhig einnehmen, ließ er noch kürzlich über einen pakistanischen Reporter mitteilen. Der Heilige Krieg gehe trotzdem weiter, stellte der meistgesuchte Mann der Welt trocken fest. Der Sturm der Nordallianz ändere daran nichts. Am liebsten, so ließ er durchblicken, würde er die US-Truppen bald in Afghanistan einmarschieren sehen. In alter Manier, so seine Vorstellung, könne er sie dann auseinander nehmen, wie er es beim Krieg gegen die Sowjets gelernt hat.

Ob es so kommt, vermag niemand zu sagen. Doch ohne eigene Truppen am Boden werden die Amerikaner ihren Hauptfeind kaum finden. Und ohne Kräfte von außen werden sie die außer Kontrolle geratenen Nordallianz-Kämpfer nicht wieder auf Kurs bringen, um ein stabiles Afghanistan zu schaffen. Die Lage ist vertrackt, aber genau davor hatten alle Kenner der region von vornherein gewarnt.

Jetzt hilft offenbar nur noch eins: Die Uno muss mit Blauhelmen nach Kabul, um die Hauptstadt zu sichern und die alten Rivalitäten im multiethnischen Afghanistan im Zaum zu halten. Und schleunigst muss eine Übergangsregierung gebildet werden, damit die Kämpfer der Nordallianz nicht auch die politische Macht übernehmen wie schon Anfang der neunziger Jahre. Beides muss jetzt sehr schnell gehen. Dass es ohne dies nicht gehen werde, war hingegen schon lange klar.

 

"Das erinnert mich an Vietnam"

Streitgespräch zwischen Rudolf Scharping und Peter Scholl-Latour über den Krieg in Afghanistan und die Beteiligung der Deutschen an diesem
Peter Scholl-Latour
Quelle Spiegel Online
Rudolf Scharping


Peter Scholl-Latour:
Ich habe den Eindruck, die Amerikaner schlittern in Afghanistan in einen Abnutzungskrieg hinein. Das erinnert mich an Vietnam, wo man auch mit großen Hoffnungen begonnen hatte und wo am Ende keine Entscheidung davongetragen wurde.

Rudolf Scharping: Ein unzulässiger Vergleich. Erstens, weil die Amerikaner sich diesmal von Anfang an um eine internationale Koalition bemüht haben, und zweitens, weil militärische Mittel bisher sehr vorsichtig eingesetzt werden. Das macht schon folgender Vergleich deutlich: Zur Befreiung Kuwaits wurden rund 112.000 Einsätze geflogen; das war ein Tagesdurchschnitt von 1500 bis 2000. Gegen Jugoslawien wurden insgesamt 23.000 Einsätze geflogen, täglich zwischen 250 und 300. In Afghanistan sind es täglich im Schnitt etwa 100 militärische Einsätze, obwohl das Land sechsmal größer ist. Über diesen Zahlen zu militärischen Maßnahmen darf man die politischen Anstrengungen, die ja im Vordergrund stehen, und die humanitäre Hilfe nicht vergessen. Also: Bush reagiert hier weitsichtiger als seine Vorgänger, die die Sprengung zweier US-Botschaften 1998 blind militärisch vergolten hatten.


Scholl-Latour: Der Irak-Krieg ist zwar militärisch gewonnen, politisch aber verloren worden. Saddam Hussein regiert immer noch. Im Kosovo wurden praktisch keine Ziele getroffen; ich habe das Gebiet unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen besucht. Und in Afghanistan haben wir gar keine Ziele, weil die Kommandozentralen der Taliban, von denen man immer redet, gar nicht existieren. Wenn nun behauptet wird, wir hätten die Lufthoheit über Afghanistan errungen, ist das lächerlich; die Taliban hatten weder eine Luftwaffe noch eine anständige Luftverteidigung.


Scharping:Über militärische Einzelheiten im Zusammenhang mit Kosovo können wir ein anderes Mal streiten. Wichtiger sind politische Fortschritte, die vor zweieinhalb Jahren niemand prophezeit hätte, wie Demokratie in Jugoslawien und Kroatien. Aber nun zu Afghanistan: Was ist denn die Alternative? Sollen wir zusehen, wie sich der Terror weiterentwickelt? Wollen wir vergessen, dass in Afghanistan ein menschenverachtendes Regime Millionen Flüchtlinge zu verantworten hat und eine brutale Menschenverachtung gerade gegen Frauen und Kinder?


Scholl-Latour: Ich bin ja nicht dagegen, dass die Amerikaner gegen den Terrorismus vorgehen. Aber wenn sämtliche Staaten der UNO dem zugestimmt und ihre Solidarität bekundet haben, ist das im Grunde ein Zeichen von Heuchelei. Denn von den 180 in der UNO-Vollversammlung vertretenen Regierungen sind mindestens zwei Drittel Diktaturen, Militärcliquen oder Schlimmeres. Die haben jedes Interesse, ihre eigene Opposition als Terroristen zu brandmarken und gegen sie vorzugehen. Aber glauben Sie denn wirklich, Herr Minister, dass das Zentrum des Terrorismus in Afghanistan liegt? Dort befindet sich die Al-Qaida-Truppe, dort befindet sich auch bin Laden, aber er kann doch die Operation von Afghanistan aus gar nicht leiten. Und die Attentäter, die gefasst wurden, sind ja keine Afghanen gewesen, sondern es waren Saudis und Leute aus den Emiraten.


Scharping: Stimmt. Dennoch: Dieses Netzwerk von Terrorismus wird durch Al-Qaida gestützt und gesteuert. Mich besorgt aber, dass sich in der öffentlichen Erörterung des Kampfes gegen den Terrorismus so etwas wie eine militärische Dominanz durchsetzen könnte. Dabei wird übersehen, dass dieser Kampf an mehreren Orten und auf mehreren Ebenen stattfindet: gegen Finanzquellen, gegen Organisationsstrukturen, gegen Ausbildungsmöglichkeiten, gegen illegale oder scheinlegale Existenzen und anderes. Außerdem signalisieren mir Ihre Bemerkungen, Herr Scholl-Latour, dass man auch falschen Erwartungen begegnen muss. Unsere Gesellschaften sind ereignisorientiert, sie wollen schnelle Ergebnisse sehen und sie sind in ihrer Wahrnehmung stark durch Bilder geprägt; erstaunlich ist, dass die schrecklichen Bilder des zerstörten World Trade Centers zu verblassen beginnen, nur wenige Wochen nach dieser Tragödie. Wenn aber Bilder die Wirklichkeit nicht umfassend abbilden, wenn das Ereignis an die Stelle von Entwicklung und die Spekulation an die Stelle von Tatsachen tritt, dann könnte das indirekt terroristischen Bestrebungen in die Hände spielen, weil die Fähigkeit zu langfristiger und dauerhafter Auseinandersetzung untergraben würde.


Scholl-Latour: Sie selbst haben während des Kosovo-Krieges größten Wert darauf gelegt, dass die Massengräber von ermordeten Albanern gezeigt wurden. Im Moment jedoch wird mit allen Mitteln verhindert, Bilder von afghanischen Leichen, von toten Kindern und Zivilisten zu zeigen. Es gibt eine Zensur auf westlicher Seite. Und Sie merken ja selber, dass die westliche Öffentlichkeit unruhig wird. Es ist kein einziger Fortschritt erzielt worden, und jetzt fliegen auch noch die B-52-Bomber, die nur sehr geringe Zielmöglichkeiten haben; die werfen aufs Geratewohl Bombenteppiche ab. Wenn man die Flugplätze zerbombt, geht das doch nicht zulasten der Taliban, sondern verhindert allenfalls die Landung von Alliierten, falls dies eines Tages mal notwendig wird.


Scharping:: Ihr Zensurvorwurf ist gänzlich unzutreffend. Aber ist der Zugang für jenen arabischen Sender, dessen Bilder wir sehen, wirklich frei oder führen die Taliban die Medien nur dorthin, wo das ihrer Propaganda nützt? Sie übersehen außerdem etwas: Die B52 sind heute - anders als im Vietnam-Krieg - mit präzise gesteuerter Munition bestückt. Im Übrigen: Was ist die Alternative? Sollen etwa Kommandozentralen, Radarstellungen, Militärlager unantastbar bleiben? Haben Sie einen Rat?


Scholl-Latour:: Ich bin kein Entscheidungsträger, ich bin Beobachter. Kommen wir zu einer anderen Frage: Der Bundeskanzler hat von uneingeschränkter Solidarität mit Amerika gesprochen. Wir haben selbstverständlich eine Bündnissolidarität mit Amerika, und auch ich fühle mich uneingeschränkt solidarisch mit jedem US-Soldaten, der dort in Gefahr kommt. Ich fühle mich aber nicht uneingeschränkt solidarisch mit dem amerikanischen Präsidenten, der die Entscheidung zu treffen hat und der im Moment über eine unglaubliche Vollmacht verfügt. Er hat ja den Beweis seiner politischen und strategischen Fähigkeiten noch gar nicht erbracht. Was ist das also für eine Haltung eines Verbündeten, der sich bedingungslos seinem stärkeren Partner anschließt? Haben Sie überhaupt Kenntnis von den Plänen der Amerikaner? Mir sind sie nicht ersichtlich.


Scharping: Der Bundeskanzler hat völlig zu Recht gesagt, dass uneingeschränkte Solidarität bedeutet, selbst zu beurteilen und souverän zu entscheiden. Dies folgt politischen Prinzipien. Ich bekräftige meine Mahnung gegen jede Dominanz des Militärischen und mache aufmerksam auf das politische Gesamtkonzept: innere Sicherheit und internationale Kooperation stärken, das Terrorregime mit den Afghanen gemeinsam beseitigen, bis dahin politisch und humanitär helfen, Nachbarstaaten wir Iran oder Pakistan einbeziehen, regionale Konflikte eindämmen - sonst könnte in den islamisch geprägten Gesellschaften die noch vorhandene relative Isolierung terroristischer Gruppen durchbrochen werden. Umso wichtiger ist es, den Nahost-Konflikt einer Lösung näher zu bringen.


Scholl-Latour: Sprechen die Amerikaner mit ihren Verbündeten beispielsweise über die Absicht - zumindest mit einem Teil ihrer Führung -, den Krieg nach Irak zu tragen, was ja den ganzen Orient zur Explosion bringen würde? Oder machen die Amerikaner das Gleiche wie im Kosovo, wo sie ihren Verbündeten nicht einmal Einblick in die Bilder ihrer Aufklärungssatelliten gaben?


Scharping:: Der Irak steht nicht auf der militärischen Tagesordnung. Schon die Besuche vom Bundeskanzler, britischen Premierminister und anderen in Pakistan, Indien, China und Russland belegen ein abgestimmtes Vorgehen. Die politische Koordination mit den amerikanischen Freunden und übrigens auch die Information auf der militärischen Ebene ist eng, gut und vertrauensvoll.


Scholl-Latour: Wie lange wird die deutsche Öffentlichkeit die doch ziemlich blinde Bombardierung afghanischer Ortschaften hinnehmen? Und selbst wenn bin Laden getötet würde, wäre noch nicht viel gewonnen; dann hätte der Islam einen Märtyrer mehr. Wir können doch nicht alles auf die Person Osama bin Laden konzentrieren.


Scharping: Das Letzte ist richtig, aber ohne die Person und das Ausschalten des gesamten terroristischen Netzes und der Leute, die hinter bin Laden stehen, gelingt auch alles andere nicht, im Gegenteil. Das wäre eine unverantwortliche und folgenschwere Ermutigung des internationalen Terrorismus. Die Akzeptanz der Mischung aus politischen Zielen, humanitärer Hilfe und militärischen Mitteln in unserer Bevölkerung hängt sehr stark von der Klarheit, Entschiedenheit und Besonnenheit politischer Führung ab. Dies ist gewährleistet. Wir werden dabei noch deutlicher machen müssen, dass das Ringen gegen den Terrorismus auch ein Test dafür ist, ob westliche Gesellschaften in der Lage sind, eine langfristige Anstrengung durchzuhalten. Die ist notwendig. Das ist von Anfang an und deutlich gesagt worden.


Scholl-Latour: Aber wie wollen Sie die Bevölkerung bei der Stange halten, wenn Ihnen das schon in Ihrer eigenen Partei schwer fällt?


Scharping: Natürlich tauchen Fragen auf, nicht nur in einzelnen Parteien, und die müssen sorgfältig beantwortet werden - in der Hoffnung, dass die Fragenden auch die Bereitschaft mitbringen, Informationen aufzunehmen und sich ein sachliches Urteil zu bilden. Überzeugungen leiten Politik, ersetzen sie aber nicht. Im Übrigen: Die Vorstellung vom chirurgisch feinen, jeden zivilen Schaden vermeidenden Krieg kann schon deshalb nicht erfüllt werden, weil wir es mit Gegnern zu tun haben, die skrupellos die Zivilbevölkerung missbrauchen. Man kann sich nur darum bemühen, die Zerstörung zivilen Lebens so gering wie möglich zu halten.


Scholl-Latour: Der Bundeskanzler hat von Peking aus sehr deutlich erklärt, dass die Bundeswehr sich an den kommenden Operationen beteiligen wird, und das nicht nur logistisch oder mit Sanitätseinheiten, sondern auch mit Kampfeinheiten. In welchem Maße sehen Sie Einheiten der Bundeswehr, die dafür zur Verfügung stehen?


Scharping: Die Bundeswehr kann mehr als Logistik und Sanität. Sie ist nicht in dem Zustand, in den manche sie aus innenpolitischen oder parteipolitischen Gründen hineinfaseln wollen. Wir drängeln uns weder noch ducken wir uns weg. Wir werden nüchtern abwägen, mit welchen Fähigkeiten und wo wir sinnvoll beitragen können zu gemeinsamer Sicherheit und gegen internationalen Terrorismus. Gegenwärtig gibt es keine operativ konkretisierten Anforderungen, und folglich gibt es auch keinen Grund zu Spekulation oder zu Entscheidungen über konkrete Einsätze.

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Krieg in Afghanistan
Neue Taktik der USA
   
Quelle Tageszeitung von :
BERND PICKERT 03.1101



Wer nach dem Schwenk in der US-Taktik gegen Afghanistan noch einmal den Satz in den Mund nimmt, dieser Krieg richte sich nicht gegen die Zivilbevölkerung, dem gehören die Leviten gelesen. Von 1.500 zivilen Toten bislang sprechen die Taliban. Die wahre Opferzahl liegt - Hunger, Vertreibung und Flucht eingerechnet - um ein Vielfaches höher. Und sie wird weiter steigen.

Dass die Taliban immer mehr militärisches Gerät in Wohnviertel verlegen und ihre eigene Bevölkerung als menschlichen Schutzschild einsetzen, kann niemanden überraschen - Menschenfreundlichkeit war noch nie die Spezialität des Regimes von Mullah Mohammed Omar. So ist Krieg nun einmal, sagen manche.

Stimmt, und eben deshalb darf man konstatieren, dass die US-Kriegspropagandisten lügen, dass sich die Balken biegen.

Dabei offenbart die neue US-Taktik vor allem eine Hilflosigkeit, die keinerlei Skrupel kennt. Wenn dieser Krieg, wie es US-Politiker ein ums andere Mal erläutert haben, tatsächlich ein "neuartiger Krieg" ist, dann dokumentiert der Einsatz einer Uraltwaffe wie dem B-52-Bomber geradezu symbolisch, dass die USA keine Ahnung haben, wie ein solcher militärischer Konflikt denn zu führen ist. Von Stabilität, Gerechtigkeit und Versöhnung - also notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Bedingungen für einen langfristigen Erfolg gegen den Terrorismus - ist die Welt heute weiter entfernt als am 11. September. Und mit den quasipolizeilichen Aufgaben der Terroristenverfolgung haben B-52-Flächenbombardements nichts gemein.

Es ist noch keine zwei Wochen her, da verkündete der deutsche Außenminister Joschka Fischer in Pakistan, entscheidend sei eine politische Lösung in Afghanistan selbst unter Einschluss aller Volksgruppen. Jetzt versuchen die USA, in Ermangelung anderer schlagkräftiger innerafghanischer Taliban-Gegner, der Nordallianz den Weg nach Kabul freizubomben. Falls das gelingt, wird ein neuer lang anhaltender Bürgerkrieg, in den die gesamte Region einschließlich der Atommacht Pakistan einbezogen werden könnte, billigend in Kauf genommen. Die Logik des Schlachtfeldes siegt über das Primat der Politik. Statt zur Stabilisierung einer vom Krieg geschundenen Region beizutragen, fördern die USA weitere Eskalation und gefährden die internationale Koaliton, die sie selbst geschmiedet haben. Wenn der Einsatz der Vereinigten Staaten in Afghanistan irgendwann vorbei ist, wird mehr in Schutt und Asche liegen als nur die afghanischen Städte und Dörfer.

 

 
Das Märchen vom sauberen Krieg
US-Bombenterror gegen Zivilbevölkerung
   
Quelle:Jungewelt von :
Werner Pirker 03.1101


Von den 100 Einwohnern im Dorf Shokar, nahe Kandahar, leben 80 nicht mehr. Ihnen waren Bomben statt Lebensmittelpakete zugeteilt worden. Weil sich Terrorhöhlen, die Bush auszuräuchern versprach, nur schwer treffen lassen, entschied sich die US-Luftwaffe für die bequemere Methode, die Ausräucherung von Dörfern und deren Bewohnern. Auch Krankenhäuser, weil nicht in Höhlen untergebracht, sind klar erkennbare Ziele der Rächer der Terroropfer von New York. Im Krieg gegen den »international vernetzten Terror« verblutet Afghanistan.

Nichts anderes haben die Friedensaktivisten vorausgesagt. Sie scheinen mehr vom Krieg zu verstehen als die Strategen des neuen Krieges, die diesen als chirurgischen Eingriffe ohne großen Blutverlust darzustellen belieben. Doch Kriegsschauplätze sind keine Operationssäle, sondern Schlachthäuser. Und wenn dann Operationssäle auch noch bewußt angegriffen werden, erhält die Metapher vom klinisch sauberen Krieg erst ihre wirkliche Bedeutung.

Der Rachefeldzug gegen Afghanistan eskaliert in dem Maße, in dem er seiner vorgeblichen Legitimation verlustig geht. Der internationale Terror ist in Afghanistan nicht lokalisierbar. Osama bin Laden weiß sich gegen Flächenbombardements der B-52-Flugzeuge garantiert besser zu schützen als die afghanische Dorfarmut. Die Taliban mögen zwar den Menschenrechten ebensowenig Achtung entgegenbringen wie die Verursacher der globalen humanitären Katastrophe, doch die Ereignisse nach dem 11. September haben sie vor die Situation gestellt, die nationale Unabhängigkeit gegen ihre einstigen Förderer verteidigen zu müssen. Denn die Afghanen, das haben sie bereits zur Genüge bewiesen, sind der Fremdbestimmung grundsätzlich abgeneigt.

Die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die alle Ethnien, Stämme und sozialen Schichten umfaßt, wäre ein objektives nationales Erfordernis. Doch das kann nicht im Ergebnis der angloamerikanischen Aggression erfolgen, sondern nur im Befreiungskrieg gegen die Interventen. In diesem Kampf steht die Nordallianz auf der Seite der Aggressoren. Das disqualifiziert sie als Träger einer zukünftigen afghanischen Staatsmacht. Zudem widerspräche das den Interessen Pakistans, das die Vorherrschaft der Paschtunen, des Südens über den Norden, gesichert sehen will. Islamabad setzt auf eine Spaltung der Taliban. Doch die Verlaufsform dieses Krieges macht das immer unwahrscheinlicher.

Afghanistan ist nicht befriedbar. Sowjetische Afghanistan-Veteranen wissen davon zu berichten. Obwohl die Herrschaft der prosowjetischen Aprilrevolutionäre – von Taraki bis Najibullah – als Zeit der Bildungsoffensive, der Bodenreform und der Frauenbefreiung im afghanischen Geschichtsbewußtsein einen positiven Platz einnimmt. Auch das könnte den Widerstand gegen die US-Aggression stimulieren.

Das Märchen vom sauberen Krieg
US-Bombenterror gegen Zivilbevölkerung
   
Quelle:Jungewelt von :
Werner Pirker 03.1101


Von den 100 Einwohnern im Dorf Shokar, nahe Kandahar, leben 80 nicht mehr. Ihnen waren Bomben statt Lebensmittelpakete zugeteilt worden. Weil sich Terrorhöhlen, die Bush auszuräuchern versprach, nur schwer treffen lassen, entschied sich die US-Luftwaffe für die bequemere Methode, die Ausräucherung von Dörfern und deren Bewohnern. Auch Krankenhäuser, weil nicht in Höhlen untergebracht, sind klar erkennbare Ziele der Rächer der Terroropfer von New York. Im Krieg gegen den »international vernetzten Terror« verblutet Afghanistan.

Nichts anderes haben die Friedensaktivisten vorausgesagt. Sie scheinen mehr vom Krieg zu verstehen als die Strategen des neuen Krieges, die diesen als chirurgischen Eingriffe ohne großen Blutverlust darzustellen belieben. Doch Kriegsschauplätze sind keine Operationssäle, sondern Schlachthäuser. Und wenn dann Operationssäle auch noch bewußt angegriffen werden, erhält die Metapher vom klinisch sauberen Krieg erst ihre wirkliche Bedeutung.

Der Rachefeldzug gegen Afghanistan eskaliert in dem Maße, in dem er seiner vorgeblichen Legitimation verlustig geht. Der internationale Terror ist in Afghanistan nicht lokalisierbar. Osama bin Laden weiß sich gegen Flächenbombardements der B-52-Flugzeuge garantiert besser zu schützen als die afghanische Dorfarmut. Die Taliban mögen zwar den Menschenrechten ebensowenig Achtung entgegenbringen wie die Verursacher der globalen humanitären Katastrophe, doch die Ereignisse nach dem 11. September haben sie vor die Situation gestellt, die nationale Unabhängigkeit gegen ihre einstigen Förderer verteidigen zu müssen. Denn die Afghanen, das haben sie bereits zur Genüge bewiesen, sind der Fremdbestimmung grundsätzlich abgeneigt.

Die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die alle Ethnien, Stämme und sozialen Schichten umfaßt, wäre ein objektives nationales Erfordernis. Doch das kann nicht im Ergebnis der angloamerikanischen Aggression erfolgen, sondern nur im Befreiungskrieg gegen die Interventen. In diesem Kampf steht die Nordallianz auf der Seite der Aggressoren. Das disqualifiziert sie als Träger einer zukünftigen afghanischen Staatsmacht. Zudem widerspräche das den Interessen Pakistans, das die Vorherrschaft der Paschtunen, des Südens über den Norden, gesichert sehen will. Islamabad setzt auf eine Spaltung der Taliban. Doch die Verlaufsform dieses Krieges macht das immer unwahrscheinlicher.

Afghanistan ist nicht befriedbar. Sowjetische Afghanistan-Veteranen wissen davon zu berichten. Obwohl die Herrschaft der prosowjetischen Aprilrevolutionäre – von Taraki bis Najibullah – als Zeit der Bildungsoffensive, der Bodenreform und der Frauenbefreiung im afghanischen Geschichtsbewußtsein einen positiven Platz einnimmt. Auch das könnte den Widerstand gegen die US-Aggression stimulieren.

Brachland
KABUL Die einzige Chance auf gesellschaftliche Emanzipation in Afghanistan besteht in der Entwicklung städtischen Lebens

Zahra Breshna
Quelle : Freitag: Die Ost-Wesr-Wochenzeitung

Im Januar hielt die Architektin Zahra Breshna auf einem Diskussionsabend des Feministischen Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung Zur Lage von Frauen und Mädchen in Afghanistan einen Vortrag, in dem sie auf die Bedeutung der Stadt für die gesellschaftliche Entwicklung ihres Landes hinwies und dringend für einen "Wiederaufbau und die Unterstützung der Stadt Kabul" plädierte. Der Text ist noch vor der Zerstörung der Buddha-Statuen durch die Taleban entstanden und gewinnt nun, angesichts der fortgesetzten Luftangriffe der USA, eine fatale Aktualität. Wir dokumentieren den Vortrag in leicht gekürzter Fassung.

Aus der dialektischen Gegenüberstellung von Stadt und Land heraus versuche ich die jetzige, die verheerende Situation der afghanischen Frauen zu beschreiben, um dabei die gesellschaftliche Bedeutung der Großstadt, speziell für ein agrarisch-traditionelles Land wie Afghanistan, hervorzuheben.

Die Stadt ist ein dynamischer Ort des Wandels und der Veränderung; hier findet die Auseinandersetzung mit dem Fremden statt, die zur Entstehung von neuen Ideen führt. Der Drang nach Freiheit und Emanzipation formulierte sich in der offenen Atmosphäre der Stadt.

Die Städte bildeten in vor- und frühindustriellen Phasen räumlich und gesellschaftlich einen antithetischen Gegensatz zum Land. In postindustriellen Gesellschaften dagegen findet eine dialektische Auflösung von gegensätzlichen Begriffen wie Natur und Kultur, Stadt und Land, Tradition und Moderne statt.

Afghanistan ist dagegen ein agrarisch traditionelles Land, in dem sich die Gegensätze noch erhalten haben. Auf dem Land mit seiner rauen, unwirtlichen Natur und der schwachen Infrastruktur ist der Einfluss der regionalen Stammesgesetze und Regeln dominierend. Die Zugehörigkeit zum Stamm ist dort stärker als die Zugehörigkeit zum Staat.

Die Taleban stammen aus der sehr einfachen Landbevölkerung und sind politisch gestärkt durch die radikal islamistische Bewegung der pakistanischen Madrassas, in denen sie ausgebildet wurden. Ihr Denken ist antimodern, antiurban und gegen die Frau als aktiver Teil des öffentlichen Lebens gerichtet.

Das Phänomen der Taleban kann zwar allgemein als Konflikt zwischen Stadt und Land betrachtet werden, drückt sich aber tatsächlich als Konflikt zwischen Kabul und dem Land aus. Aus Sicht des Landes war Kabul eine "sündige" Stadt. Als Feindbild verkörperte sie aufgeklärte, säkulare, pluralistische und liberale Weltanschauungen.

Kabul war noch bis zu unserer Flucht im Jahr 1980 eine verhältnismäßig moderne Stadt. Das offene gesellschaftliche Klima ermöglichte ein Zusammenleben von verschiedenen Ethnien und Religionen. Es gab einen regen Austausch mit dem Ausland und zeitgemäße Möglichkeiten der Bildung und Ausbildung für Frauen und Männer.

Durch die Trennung von Staat und Religion konnten sich Gesetze und Regeln entwickeln, auf deren Basis eine rechtliche Gleichberechtigung der Frauen erreicht wurde. Unter anderem gab es keinen Schleierzwang und keine Kleiderordnung. Frauen waren ein wichtiger Teil des öffentlichen Lebens. Es gab Ministerinnen, Wissenschaftlerinnen, Universitätsprofessorinnen, Künstlerinnen. Frauen gehörten zur kulturellen Elite des Landes.

Die Emanzipation der Frau erfolgte nicht in dem hier bekannten Geschlechterkampf, da Frauen und Männer gemeinsam gegen überkommene Traditionen, für eine modernere Gesellschaft kämpften. In ihrem Kampf für die Gleichberechtigung wurden Frauen von den Männern unterstützt. Leider konnten Frauen ihre Rechte hauptsächlich in Kabul und in anderen Städten umsetzen. Auf dem Land wurden die autonomen Einzugsgebiete der Stämme, je größer die Entfernung von den Großstädten war, immer stärker und wichtiger. Dem Zentralstaat stand die dezentrale und egalitäre Organisationsform der einzelnen Volksgruppen gegenüber. Offizielle Rechtsprechung, wie zum Beispiel die Gleichberechtigung der Geschlechter, wurde nicht angewandt und nicht respektiert.

Frühere Regierungen in Kabul versuchten daher immer, eine vorsichtige Balance zwischen staatlicher Einflussnahme und der Autonomie der Stämme zu finden. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass sich Frauenrechte und Modernisierungsmaßnahmen nicht oder nur sehr langsam auf dem Land durchsetzten.

Die diktatorisch durchgeführten Maßnahmen der kommunistischen Regierung für radikale gesellschaftliche Veränderungen des ganzen Landes haben die religiösen Gefühle des Volkes verletzt. Die traditionellen gesellschaftlichen Prinzipien der Landbevölkerung und ihrer Autonomie wurden total negiert. Vereinigt und mobilisiert durch den Islam, führten alle Volksgruppen - ausgehend vom Land - den Jihad gegen die Kabuler Regierung. Nach dem Einmarsch der Roten Armee - zur Unterstützung der Regierung gegen das gesamte Volk - wurde dieser Kampf zu einem Stellvertreterkrieg des Westens gegen den Osten.

Für die Taleban bedeutete die Eroberung von Kabul auch, ein Feindbild besiegt zu haben. Es galt nun die strenge Auslegung der Sharia, die besonders in Bezug auf Frauenrechte eine willkürliche Islamdeutung ist. Frauen wurden aus dem öffentlichen Stadtleben vertrieben. Ebenso wurden Teile der modernen technologischen, wissenschaftlichen und materiellen Errungenschaften als Verkörperung westlicher Einflüsse aus dem öffentlichen Raum verbannt.

Die Eroberer der Stadt hatten ein leichtes Spiel; Kabul war durch die unerbittlichen Machtkämpfe einzelner Modjahedin-Führer in einem Bürgerkrieg ausgeblutet und total zerstört. Die Stadt hatte ihre kulturellen Köpfe und Fachkräfte seit 1980 durch Flucht schubweise an das ausländische Exil verloren. Sie glich nun einer Brache.

Der Begriff "Brache" bezeichnet einen Raum zwischen Kultur und Natur; einen von Kultur verlassenen und gleichzeitig den Naturgewalten überlassenen Raum. Brache ist ein gesetzloser, anarchischer, ein chaotischer Raum. Brache hat das negative Potential um sich greifender Brachwerdungen, wenn nicht rechtzeitig geeignete Gegenmaßnahmen getroffen werden. Wüstungsprinzipien oder Desertifikationen führen zur Verwilderung und Verwüstung ganzer Regionen. In der Konsequenz können brachgewordene Städte zum Untergang von Kulturen und Staaten führen. Brachen stellen nichts dar und haben keinen Identifikationswert mehr, bis sie irgendwann archäologisch und museal überhöht als Ruinen funktionieren.

Der Wiederaufbau und die Unterstützung der Stadt Kabul sollten als wichtige Maßnahmen erkannt werden, weil die Stadt die kulturelle Identität aller in Afghanistan lebender Ethnien darstellt und damit ein Sinnbild für Afghanistan ist.

Die politische Unterschätzung der Bedeutung von Stadt als Motor für gesellschaftlichen Wandel hängt einerseits damit zusammen, dass sich die Gegensätze zwischen Stadt und Land in den postindustriellen Nationen, aufgelöst haben, andererseits Strategien und Maßnahmen für den Wiederaufbau nur in langen Phasen erfolgversprechend sind. Kurzfristige Ergebnisse - politisch immer gewünscht - kann es nicht geben.

Die Wiederbelebung von städtischem Leben kann mehrere Dinge bewirken. Es werden sich intellektuelle Kräfte gegen repressive, rückschrittliche Einflüsse bilden. Über die "Stadt als Tor zur Welt" gibt es Möglichkeiten, die im Exil lebenden afghanischen Intellektuellen, Künstler und Fachkräfte - insbesondere das Potential der Frauen - gegen eine weitere Verwilderung und Verrohung zu mobilisieren. Ausgehend von den Städten kann die Entwicklung allgemeiner Menschenrechte und der Gleichberechtigung der Frauen in Afghanistan jedoch nur in der Synthese von Tradition, Islam und Moderne, als spezieller afghanischer Weg zur Demokratie aus sich heraus geschaffen werden. Dabei können Weiterentwicklungen von früher vorhandenen Strukturen und traditionelle Instrumente wie Stammes- und Ratsversammlungen konstruktiv sein.

Afghanistan wäre langfristig in der Lage durch Kabul und andere Großstädte - die Einbindung des enormen Potentials der Intellektuellen und Fachkräfte im Exil nutzend - den Schritt von einer prä-industriellen zu einer post-industriellen Gesellschaft zu wagen und dabei die Industrialisierungphase zu überspringen. Dieser Schritt ist im virtuellen, digitalen Zeitalter nicht mehr an den industriellen Raum gebunden. Die postindustrielle Zeit und die digitale, virtuelle Welt, sowie den damit veränderten Arbeitsbedingungen, ermöglichen den Frauen ihre Rolle aktiv zu definieren und Veränderungen in der Gesellschaft tiefgreifender mitzubestimmen.

Auch wenn derzeit im Exil die Stimme der afghanischen Frau in der Öffentlichkeit wenig präsent ist, so ist sie noch lange nicht untätig. Durch Flucht und Zerstreuung in die ganze Welt haben sich aus den anfänglichen Einzelinitiativen mittlerweile größere Gruppen organisiert. Dadurch können Projekte und Programme effektiver durchgesetzt und realisiert werden. Diese auf einzelne Länder und Regionen bezogenen Organisationen sind dabei, sich immer stärker zu vernetzen und sich damit zu unüberseh- und unüberhörbaren Bewegungen zu vereinen, die gesellschaftlich nicht wirkungslos sein werden.

Es wäre falsch zu glauben, durch konkrete Hilfsmaßnahmen und Projekte für den Wiederaufbau der Stadt Kabul, die Regierung der Taleban zu unterstützen. Diese radikalen Fundamentalisten haben kein gesellschaftliches Konzept, welches die Komplexität und Widersprüchlichkeit einer Gesellschaft berücksichtigt. Sie sind daher mit der jetzigen Aufgabe weit überfordert. Eine unblutige "Enttalebanisierung" und damit ein wirksamer Schutz vor Radikalislamisten kann nur mit Unterstützung einer wiederbelebten städtischen Gesellschaft erfolgen.

Wie oben beschrieben, kann die Brachwerdung einer Stadt zum Untergang ganzer Regionen und eines Landes führen. Hier liegt für mich die eigentliche Gefahr. Im Gegensatz zu den westlichen, post-industriellen Nationen, in denen sich die starken Gegensätze von Stadt und Land immer weiter auflösen und das Verschwinden einzelner Städte nicht mehr eine existenzielle gesamt-gesellschaftliche Wirkung hätten, würde die Brachwerdung von Kabul und anderen wichtigen Städten in Afghanistan weitreichende Konsequenzen für das Nationalgefüge und sogar für seinen Weiterbestand generell haben. Die Folgen wären nicht absehbar.

Zahra Breshna, geboren 1964 in Kabul, ist Architektin. 1980 kam sie nach Deutschland, seit sechs Jahren lebt sie in Berlin.

Weitere Informationen unter: www.boell-glow.de und www.rawa.org

US-Pläne durchkreuzt
Tod von Anti-Taliban-Anführer Abdul Haq Rückschlag für Destabilisierung Afghanistans

Quelle Junge Welt
Datum: 29.10.2001



Während die US-Streitkräfte mit ihrer Luftlandeoperation in der vergangenen Woche in Afghanistan in der Nähe von Kandahar nur knapp der Katastrophe entgingen, gelang es den Taliban in der Region einen großen Propagandaerfolg gegen die Amerikaner zu verbuchen und zugleich die politischen Pläne der US-Regierung für eine Anti-Taliban-Koalition zu durchkreuzen. Einer Talibaneinheit war es gelungen, am Freitag Abdul Haq, einen weithin bekannten Anführer aus der Anti-Taliban-Opposition, samt seiner bewaffneten Begleitung gefangen zu nehmen. Haq, der aus dem hauptsächlich von Paschtunen bevölkerten Südwesten Afghanistans stammt und somit nicht der aus usbekischen und tadschikischen Minoritäten bestehenden Nordallianz zugerechnet werden kann, hatte vor dem Krieg als Feudalherr über einen Klan in Südwestafghanistan geherrscht. Auf Seiten der Mudschahedin hatte er zunächst siegreich gegen die Sowjets gekämpft, war später aber den Taliban unterlegen. Als er nach der Flucht aus Afghanistan aus seinem pakistanischen Exil weiterhin gegen die Taliban einen geheimen Krieg führte, wurde er von der pakistanischen Regierung, die bis vor kurzem noch eng mit den Taliban befreundet war, des Landes verwiesen.

Vor einem Monat hatten ihn die USA als Schlüsselfigur in ihrem Plan zur Destabilisierung des Taliban-Regimes wieder nach Pakistan zurückgebracht. Seine Aufgabe war es, unter den Paschtunen, die etwa 40 Prozent der Bevölkerung Afghanistans ausmachen, Kontakt zu unzufriedenen Klanführern und Feldkommandanten der Taliban zu suchen und diese durch allerlei Versprechen für einen Seitenwechsel zu gewinnen. Treffen dieser Art hatten bisher jedoch stets im Grenzgebiet auf pakistanischem Territorium stattgefunden. Um eine Reise ins Innere Afghanistans zu wagen, mußte Abdul Haq geglaubt haben, diesmal einen großen Coup landen zu können. Mit einer größeren Gruppe von bewaffneten Begleitern begab er sich über Schleichwege zu einen etwa70 Kilometer südwestlich von Kabul liegenden Ort, um dort hochrangige Mitglieder der Taliban zu treffen, die über Boten Interesse an seinen Vorschlägen signalisiert hatten. Warnungen, daß es eine Falle sein könnte, weil die Talibanführer sich weigerten, nach Pakistan zu kommen, hatte Abdul Haq in den Wind geschlagen und damit sein Ende besiegelt.

Nach offizieller Darstellung eines Taliban-Sprechers wurden Haq und seine Begleitung nach kurzem Kampf gefangengenommen. Nach einem eintägigen Verhör wurde Haq »als amerikanischer Spion« am Freitag verurteilt und hingerichtet. Haqs Familie hat inzwischen seinen Tod bestätigt. »Das Urteil wurde auf der Grundlage gefaßt, daß jeder, der den Amerikanern hilft, mit dem Tode rechnen muß«, warnten die Taliban alle US-Sympathisanten in der Region. Dadurch, daß die Taliban am Beispiel von Haq demonstriert haben, keine leeren Warnungen auszustoßen, dürften die Bemühungen der US-Regierung, die verschiedenen Volksgruppen in Afghanistan gegen das Taliban auszuspielen, um so das Regime in Kabul zu destabilisieren, einen bedeutenden Rückschlag erlitten haben.

Statt die Überlegenheit der hochmodernen amerikanischen Militärmaschine zu demonstrieren, haben die US-Elitesoldaten nach ihrem Luftlandeeinsatz in den Augen der lokalen Kämpfer eher wie hilflose Stümper ausgesehen. Zugleich mehren sich Berichte, wonach die US-Amerikaner in der Region zunehmend als große Feiglinge betrachtet werden, weil sie lediglich aus großer Höhe ihre Bomben abwerfen und dabei Frauen und Kinder töten, aber dem Kampf Mann gegen Mann aus dem Weg gehen. Diese Veränderung in der Wahrnehmung der Amerikaner soll bei den Taliban den Zusammenhalt und den Kampfeswillen gestärkt und bei den jungen Männern der Region Wut und Haß auf die USA weiter geschürt haben. Dies sei selbst bei jenen der Fall, die bisher den Taliban eher kritisch gegenüber gestanden hätten.

In Pakistan war es am Wochenende zur bisher mächtigsten Demonstration gegen die USA gekommen. Das anti-amerikanische Feuer wird dabei zusätzlich durch den Tod von 35 jungen pakistanischen Fundamentalisten geschürt, die bei einer Zusammenkunft im afghanischen Kabul in der letzten Woche von einer amerikanischen Fliegerbombe getroffen wurden. Um weitere Unruhen zu verhindern, verbot die pakistanische Regierung die Rückführung der Leichen zur Beerdigung in Pakistan. Dieser Beschluß lieferte den aufgebrachten Islamisten, die »ihre von Amerikanern ermordeten Märtyrer« in heimatlicher Erde bestatten wollen, nur zusätzlichen Zündstoff. Inzwischen sind bereits 11 der 35 Leichen der Märtyrer aus Kabul auf Schleichwegen über die Grenze nach Pakistan gebracht worden, wo die Trauerfeierlichkeiten in den nächsten Tagen für neue Proteste sorgen werden.

Der pakistanische Präsident Muscharraf sieht sich mit seiner pro-amerikanischen Politik zunehmend isoliert. Da sich auch die versprochene amerikanische Finanzhilfe noch nicht bemerkbar gemacht hat, wendet sich zunehmend auch die schmale bürgerliche Schicht von ihm ab, deren größte Sorge nun der inneren Stabilität gilt. Daß in den letzten Tagen wiederholt amerikanische Hubschrauber über pakistanischem Territorium unter Feuer genommen wurden und es zwischen pakistanischen Sicherheitskräften und Demonstranten vor den von den USA genutzten Luftwaffenbasen zu Schießereien gekommen ist, wird auch in Washington mit wachsender Sorge zur Kenntnis genommen.

Run auf Afghanistan
Weltweite Proteste gegen US-Krieg. 10000 Freiwillige aus Pakistan wollen Taliban unterstützen

Weltweit fanden am Wochenende Protestaktionen gegen die US-Angriffe auf Afghanistan statt, auch in zahlreichen Städten der kriegführenden Vereinigten Staaten selbst. Während in den USA von Birmingham über Los Angeles, New York und Portland bis Washington jeweils mehrere hundert Kriegsgegner auf die Straße gingen, waren es auf den Philippinen, in Indien und in Pakistan Zehntausende. Parallel zu den Protesten haben sich am Sonnabend zehntausend Pakistaner aller Altersgruppen auf den Weg nach Afghanistan gemacht. Sie wollen die Taliban im Widerstand gegen die USA unterstützen. Ein langer Treck aus Lastwagen, Pickups und Bussen traf bereits in der Grenzregion Bajur im Nordwesten ein.

Die Männer, ausgestattet mit modernen Panzerabwehrraketen und Schnellfeuergewehren, aber auch mit einfachen Beilen und Flinten, folgen dem Ruf von Taliban-Chef Mullah Mohammed Omar, der nach Beginn des US-Feldzuges am Hindukusch die Muslime zum Dschihad, dem sogenannten Heiligen Krieg, aufgerufen hatte. Mit einigem Erfolg. Von seiten der »Bewegung für die Durchsetzung der islamischen Schariagesetze« hieß es am Wochenende, den Freiwilligenkonvois in Richtung Afghanistan gehörten rund 10000 Männer an.

Im Norden Pakistans riegelten Gegner des pakistanischen Militärmachthabers Pervez Musharraf die Karakoram-Fernstraße, die sogenannte Seidenstraße, mit Felsbrocken ab. Anhänger der Jamiat Ulema-i-Islam verlegten Minen und drohten mit Angriffen auf Fahrzeuge, die den Grenzübergang zwischen Pakistan und China passieren wollten. Ein Sprecher der islamischen Partei nannte die Aktion einen Protest gegen die proamerikanische Politik der pakistanischen Regierung.

Noch unklar ist, ob der Angriff auf eine christliche Kirche in Behawalpur in der südpakistanischen Provinz Punjab in Zusammenhang mit den Protesten gegen den US-Krieg steht. Der pakistanische Geheimdienst lancierte diesbezügliche Vermutungen. 16 Menschen wurden bei dem Feuerüberfall am Sonntag getötet.

Präsident Musharraf warnte derweil am Sonnabend in einem Interview mit dem US-Nachrichtensender ABC, der Krieg in Afghanistan könnte sich für Washington und seine Verbündeten als »bodenloser Sumpf« erweisen.

Aus Afghanistan selbst häufen sich derweil die Berichte über Opfer in der Zivilbevölkerung. Reporter der Nachrichtenagentur AP berichteten am Sonntag, in Kali Hotair, einem Außenbezirk im Norden von Kabul, die Leichen von vier Kindern und zwei Männern gesehen zu haben. Bewohner des Armenviertels berichteten, unter den mindestens zehn Toten seien acht Mitglieder einer Familie. Zudem wurden drei afghanische Dörfer von US-Bomben getroffen, zwei davon befinden sich unter Kontrolle der mit Washington verbündeten Nordallianz. Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach sich am Sonntag bei seinem Besuch in Pakistan ausdrücklich für die Fortsetzung der Angriffe auf Afghanistan aus.

"Es geht um das Leben von Millionen"
INTERVIEW MIT CLAUDIA ROTH

Ist der Krieg in Afghanistan noch zu rechtfertigen, wenn er die Afghanen dem Hungertod ausliefert? Sind Streubomben "verhältnismäßig" und was tut der Außenminister? Grünen-Chefin Roth über den Anti-Terror-Feldzug und die Folgen für die Grünen.

Grünen-Vorsitzende Roth: ''Dann brennt die ganze Region''
 
SPIEGEL ONLINE: Frau Roth, vergangene Woche forderten Sie eine Feuerpause für Afghanistan. War das reine Wahlkampftaktik, wie viele Kritiker Ihnen vorwarfen?

Claudia Roth: Das war keine Wahltaktik, sondern meine feste Überzeugung! Angesichts der schon begonnenen humanitären Katastrophe in Afghanistan muss ein Weg gefunden werden, der Zivilbevölkerung, die teilweise schon seit Jahren Not leidet und den Binnenflüchtlingen in Afghanistan noch vor dem Wintereinbruch zu helfen. Darum habe ich den Vorschlag der Uno-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson für eine Feuerpause aufgegriffen.

SPIEGEL ONLINE: Diese Forderung richtet sich an die US-Regierung, aber nicht einmal der grüne Außenminister hat das unterstützt. Hätten Sie das nicht erst mal mit ihm abstimmen müssen?

Roth: Natürlich habe ich mit ihm gesprochen. Wir sind uns auch einig darin, dass die Hilfe für die Zivilbevölkerung, die Öffnung der Grenze der Anrainerstaaten für Flüchtlinge und politische Perspektive für Afghanistan jetzt Priorität hat. Darum ging es ja auch bei seinen Reisen nach Pakistan und in den Iran. Nur wie der Zugang zu den Hungernden herbeigeführt werden kann, darüber sind wir unterschiedlicher Meinung.

SPIEGEL ONLINE: Er sagt, vor einem Sturz des Taliban-Regimes sei keine Hilfe möglich.

Roth: Ich bin der Meinung, eine Unterbrechung der Angriffe ist notwendig, damit zum Beispiel die Uno-Organisationen im zentralen Hochland gezielte Flüge zum Abwurf von Hilfsgütern unternehmen können. Wenn eine solche Katastrophe droht, dann muss man offen darüber diskutieren, wie sie abgewendet werden kann. Schließlich haben neben Frau Robinson auch der Uno-Berichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler und fast alle Hilfsorganisationen für eine Feuerpause plädiert.

SPIEGEL ONLINE: Als Fischer aus Pakistan zurückkam, sagte er, ihm hätten die Hilfsorganisationen diese Forderung nicht angetragen. Wie erklären Sie sich das?

Roth: Das müssen Sie bitte den Außenminister fragen.

SPIEGEL ONLINE: Reden Sie denn über diese zentrale Frage nicht miteinander?

Roth: Natürlich tauschen wir uns aus. Er meint, die Lage für die Helfer sei derzeit so oder so viel zu gefährlich, auch eine Unterbrechung der Angriffe schaffe keine Sicherheit. Mir wurde dagegen berichtet, man könne in einigen Regionen durchaus mit gemäßigten Taliban-Vetretern eine Verabredung über die Gewährleistung von Hilfe für die Hungernden treffen.

SPIEGEL ONLINE: Was werden die Grünen tun, wenn der Krieg bis zum Einbruch des Winters nicht beendet ist und Millionen Afghanen der sichere Hungertod droht, weil sie keine Hilfe bekommen können?

Roth: Die Lage spitzt sich in der Tat dramatisch zu. Die deutsche Welthungerhilfe sagt, nur wenn jetzt Saatgut verteilt wird, könne verhindert werden, dass sich das Hungerelend im nächsten Jahr noch weiter verschlimmert. Ich werde darum weiterhin fordern, dass die Fortsetzung der Bombardierung immer wieder neu begründet wird. Und ich versichere Ihnen: Wir werden alle zusammen, auch Joschka Fischer, massiv darauf drängen, dass es zu diesen Hilfslieferungen kommt. Es geht um das Leben von Millionen Menschen.

“Dann droht der ganzen Region ein Flächenbrand“

SPIEGEL ONLINE: Und wenn die Hilfe doch ausbleibt?

Roth: Daran mag ich gar nicht denken. Das wäre gefährlich für die Anti-Terror-Koalition. Wenn in Afghanistan jetzt mehrere Millionen Menschen verhungern, dann droht der ganzen höchst fragilen Region ein Flächenbrand. Wir würden den terroristischen Fanatikern neue Anhänger ja regelrecht zutreiben. Darum versuchen wir auf allen Ebenen, von der Uno bis zur EU, Druck zu machen. Und das wird auch an die US-Regierung herangetragen.

SPIEGEL ONLINE: Sieht das der Außenminister auch so?

Roth: Natürlich sieht er das Risiko. Darum dringt er bei den Nachbarstaaten auf die Grenzöffnung, damit wenigstens jenen geholfen wird, die dort ankommen.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Kritiker warfen Ihnen vor, sie würden die Afghanistan-Krise zu emotional sehen.
Roth in Kabul (im Juni 2000 mit Shohas Hakimi, Leiter des Minenräum-Zentrums MDC): ''Ein vermintes Land mit Sprengsätzen spicken''
Roth in Kabul (im Juni 2000 mit Shohas Hakimi, Leiter des Minenräum-Zentrums MDC): "Ein vermintes Land mit Sprengsätzen spicken"

Roth: Die Vorwürfe gegen mich waren Blödsinn. Wenn der Kanzler seine Betroffenheit im Angesicht des Grauens am Ground Zero zeigt, gilt er als Staatsmann. Wenn ich fordere, der millionenfache Hungertod müsse verhindert werden, werde ich als „Heulsuse“ beschimpft. Das ist Doppelmoral. Bei der Frage der Hungerhilfe geht es um knallharte Realpolitik. Denn die Anti-Terror-Koalition wird nur dann weiter Bestand haben, wenn sie auch eine Koalition der Humanität für die Zivilbevölkerung in Afghanistan ist.

SPIEGEL ONLINE: Der grüne Länderrat hatte gefordert, die Angriffe müssten „darauf gerichtet sein, die Zivilbevölkerung zu verschonen“ und „verhältnismäßig“ sein. Glauben Sie ernsthaft, diese Kriterien seien noch erfüllt?

Roth: Es geht nicht um einen Krieg gegen ein Land, eine Religion oder eine Kultur. Allerdings wissen wir eben leider viel zu wenig. Wir brauchen klare Informationen über die Ziele und die Mittel, die zum Einsatz kommen. Die Glaubwürdigkeit der Anti-Terror-Koalition hängt davon ab. Zum Beispiel die Bilder von den Menschen, die die amerikanischen Lebensmittelpakete einsammeln, waren eben nicht aus den Notregionen sondern aus dem Gebiet, das die Nordallianz kontrolliert. Über den wirklichen Verbleib der meisten abgeworfenen Pakete wissen wir nichts.

SPIEGEL ONLINE: : Aber das Pentagon hat offen zugegeben, dass Streubomben eingesetzt werden. In besiedelten Regionen fordern diese zwangsläufig zivile Opfer.

Roth: Das stimmt, das ist weder zielgerichtet noch verhältnismäßig. Ich fordere darum Auskunft darüber, wo und zu welchem Zweck solche Bomben eingesetzt werden. Auch die Uno-Helfer kritisieren, dass ein ohnehin vermintes Land jetzt weiter mit Sprengsätzen gespickt wird.

SPIEGEL ONLINE: Der Kanzler hat sich, wie man hört, jede abweichende Meinungsäußerung zum Afghanistankrieg von Mitgliedern der Regierungskoalition verbeten. Werden Sie sich künftig daran halten?

Roth: Der Kanzler hat unumstritten die Richtlinien-Kompetenz, aber die gilt nicht für die grüne Partei und deren Vorsitzende. Darum werden wir auch weiterhin kritische Fragen stellen. Die Übernahme einer Forderung der UN-Menschenrechtskommissarin ist kein Verstoß gegen die Bündnis-Solidarität.

SPIEGEL ONLINE: War Ihr Vorstoß auch der Versuch, mehr Profil gegenüber der SPD zu zeigen?

Roth: Unsinn! Ich mißbrauche nicht die Not von sieben Millionen Menschen, um Profil zu gewinnen.

“Die FDP hat das Ja und Amen doch verinnerlicht“

SPIEGEL ONLINE: Als Parteivorsitzende werden sie ja wohl die innenpolitische Wirkung mit bedenken, auch wenn sie noch andere Beweggründe haben.

Roth: Richtig ist, dass meiner Meinung nach die Koalition stärker wird, wenn deutlich wird, dass es sich um zwei eigenständige Partner handelt. Das war in der Vergangenheit nicht immer klar.

SPIEGEL ONLINE: So richtig verfangen hat die Taktik bei der Berlin-Wahl ja noch nicht. Die Grünen haben wieder fast ein Prozent der Stimmen verloren und sind hinter der FDP gelandet.

Roth: Für uns ist diese Auseinandersetzung ja auch viel schwieriger, die restliberale FDP hat das Ja und Amen doch verinnerlicht und macht eh alles mit. Für die Situation, in der wir sind, haben wir uns gut geschlagen.

SPIEGEL ONLINE: Der Kanzler hat sich gewünscht, die Grünen sollen mit FDP und SPD gemeinsam in Berlin regieren. Würden die Grünen einen solchen Riesenspagat aushalten?

Roth: Wir müssen jetzt in den Verhandlungen ausloten, was überhaupt geht. Die Berliner Grünen werden da mit ganz konkreten Forderungen reingehen, anschließend sehen wir weiter.

SPIEGEL ONLINE: Wäre es denn - angesichts von fast 50 Prozent der Stimmen im Ostteil der Stadt für die PDS - demokratisch noch zu verantworten, die Gysi-Partei mit Hilfe einer wilden Ampel-Konstruktion aus der Regierung auszuschließen?

Roth: Das muss der Berliner Landesverband entscheiden.

Die Fragen stellten Gerd Rosenkranz und Harald Schumann.

 


Droht Amerika ein zweites Vietnam?

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Gastbeitrag Von Doron Arazi   

Inzwischen ist es offiziell, was Präsident George W. Bush zuvor nur angedeutet hatte: Amerikanische Einheiten befinden sich auf afghanischem Boden. Die "Phase zwei" des Krieges hat begonnen.

Umfang und Konzeption dieser Einsätze werden in den nächsten Tagen zwangsläufig immer deutlicher ans Licht kommen. Dabei stehen die Stichworte „Panama“ und „Vietnam“ pauschal für die zwei Pole amerikanischer Erfahrung bei der Kriegsführung in der Dritten Welt.

Panama oder Vietnam?

„Panama“ - für eine relativ saubere, einfache Greif- und Schnappaktion nach einem identifizierbaren „Schurken“ wie General Noriega - oder heute Usama Bin Ladin; „Vietnam“ - für eine endlose, frustrierende Verfolgungsjagd nach einem gespenstischen, leichtfüßigen Feind in schwer zugänglichem Gelände - dem Vietcong in den Dschungeln Südostasiens oder heute den Taliban in den Schluchten des Hindukusch-Gebirges. Beide Begriffe sind tief im Gedächtnis amerikanischer GIs eingeätzt. Sie werden alles tun, um nicht in einen „Vietnam“-Morast zu sinken, aber auf ein kurzes, schmerzloses „Panama“ haben sie nur wenig Aussicht.

Bin Ladin und seine Kämpfer haben längst ihre Nester verlassen; die Bomben der amerikanischen Luftwaffe produzieren zwar imponierende Zerstörungsszenen auf Satellitenbildern, fallen aber weitgehend auf leere, geräumte Lager. Die Taliban und Bin Ladins Dschihad-Krieger bewegen sich wahrscheinlich nachts in kleinen Gruppen zwischen Höhlen- und Tunnelsystemen im Bergland, und begehen nicht den Fehler, miteinander per Funk zu kommunizieren und ihre Orte dem amerikanischen Abhörsystem preiszugeben.

Gefahr durch Täuschungsmanöver

Vorstellbar ist sogar Täuschungsfunkverkehr, der amerikanische Truppen in tödliche Fallen in isoliertem Gelände locken würde. Al Qaida-Terroristen haben diese Methode bereits benutzt, als sie im Juni dieses Jahres mit einigen ominösen Handy-Gesprächen, gezielt in Abhörweite der amerikanischen Fernmeldeaufklärung lanciert, ganze Marineverbände im Nahen Osten zu demütigenden Fluchtmanövern zwangen.

Auch wenn die unbemannten amerikanischen Aufklärungsdrohnen Sichtkontakt mit Taliban-Kampfgruppen herstellen, wird er nicht reichen, um Bin Ladin zu identifizieren. Agenten der CIA in Pakistan erhoffen sich von Präsident Pervez Musharrafs Entschluss zur Kooperation mit Washington und vom Wechsel an der Spitze des talibanfreundlichen pakistanischen Geheimdienstes ISI nachrichtendienstliche Erkenntnisse über Bin Ladins Verstecke und vorbereitete Fluchtorte. Aber selbst bei aufrichtiger Zusammenarbeit - und sie ist schon an sich zweifelhaft - dürfen diese Erkenntnisse bereits veraltet sein. Dasselbe gilt für Informationen aus den wankelmütigen Paschtunen-Stämmen, die derzeit von amerikanischen Geheimdienst-Feldtrupps zum Überlaufen aus der Taliban-Koalition überredet werden.

Räuber- und Gendarme-Spiele

Die "Special Forces" riskieren, sich beim Räuber- und Gendarme-Spiel mit Bin Ladin zu verzetteln. In den tiefen, schmalen Schluchten des afghanischen Berglandes werden ihre Hubschrauber lange, gefährliche Minuten einfachem Maschinengewehrfeuer vom Boden oder seitlich aus den Höhlen ohne Ausweichmöglichkeit ausgeliefert sein. Nicht zu vergessen die etwa 1.000 tragbaren amerikanischen "Stinger“-Luftabwehrraketen, die Amerika für den Krieg gegen die Sowjets lieferten und die - nach amerikanischen Feldtests - immer noch in gutem technischen Zustand sein dürfen.

Auch die zehn Millionen Minen, die Afghanistans Boden verseuchen und die auf keiner Landkarte festgehalten sind, stellen eine Gefahr dar. All das geschieht im Wettlauf mit dem kommenden Winter, der jede Bewegung unmöglich macht und bereits Mitte nächsten Monats erwartet wird.

Che Guevara im Turban

Deshalb ist die Option "Panama“ unmöglich. Politisch müssen die Amerikaner einen glaubwürdigen Sieg präsentieren - ihrer eigenen Bevölkerung und noch mehr der islamischen Welt: Sonst wird das Image des Dschihad-Helden Bin Ladin, der allein der Supermacht in den Bergen trotzt, einen destabilisierenden Guerrilla-Mythos erzeugen - Che Guevara im Turban.

Um ein "Vietnam“ zu vermeiden, werden die Amerikaner - widerwillig - nicht um die physische Besetzung der Städte herum kommen - zumindest der Hauptstadt Kabul und des geistigen Zentrums der Taliban Kandahar. Dann wird es vom politischen Fingerspitzengefühl und effizienter Organisation eines Hilfs- und Aufbauwerks abhängen, ob Afghanistans geschundene, betrogene Bevölkerung die amerikanische Präsenz akzeptiert. Aber Vorsicht: Solche "nation building“ und Entwicklungshilfe zur Gewinnung der Herzen und Köpfe der Zivilbevölkerung hat Amerika schon einst versucht - in Vietnam eben.


Doron Arazi ist Militärhistoriker und beschäftigt sich vor allem mit geheimdienstlichen Angelegenheiten.
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Kabuler Kabalen
Der Krieg gegen die Taliban: Die ethnische Vielfalt als Risiko für die Friedenssuche am Hindukusch.

Der Vielvölkerstaat Afghanistan beherbergt 55 Ethnien, die in der Vergangenheit in unterschiedlichen Allianzen gegeneinander kämpften

Von Citha D. Maaß Süddeutsche Zeitung

Als am 7. Oktober 2001 die US- Militärschläge auf Afghanistan einsetzten, wurde sofort gewarnt, dass sie das afghanische Machtgefüge einseitig zugunsten der Nordallianz verschieben würden. Zwar sei das aus militärischer Sicht wünschenswert, doch könne es eine politische Übergangsregelung nach dem Sturz der Taliban gefährden, die eine „Allparteienregierung“ aus allen ethnischen Gruppen und politischen Organisationen vorsieht.

Diese Bedenken mögen zunächst überraschen, denn die Nordallianz stellt – zumindest formal – immer noch die international anerkannte Regierung des „Islamischen Staates von Afghanistan“. Warum ist damit zu rechnen, dass deren Wiedereinsetzung eine Befriedung nach 23-jährigem Krieg verhindern dürfte? Sieht man davon ab, dass auch die Nordallianz seit dem Sturz des kommunistischen Regimes in Kabul im April 1992 schwere Menschenrechtsverletzungen zu verantworten hat, so stellt die ethnische Zusammensetzung das wichtigste Hindernis dar. Die Nordallianz repräsentiert die nicht-paschtunischen ethnischen Minderheiten. Entgegen ihrem offiziellen Namen „Einheitsfront“ haben sich die verschiedenen Parteien bislang als zerstrittener Zweckverband tadschikischer, usbekischer, hazarischer und anderer regionaler Interessen erwiesen. Geschwächt wurde die Nordallianz zudem durch persönliche Rivalitäten einzelner Führer.

Die Macht der Paschtunen

Loyalität und Rivalität werden in Afghanistan durch verschiedene Trennlinien bestimmt. Die ideologisch-gesellschaftspolitische Konfrontation provozierte letztlich den sowjetischen Einmarsch 1979. Sie verlief zwischen konservativen Kräften (Royalisten und traditionelle Geistlichkeit), Reformgruppen westlicher oder kommunistischer Prägung und dem islamistischen Lager.

Die ideologisch-religiöse Konfrontation zeigte sich am deutlichsten in der Frühphase der Taliban nach 1994, als sie gegen die teilweise nicht minder islamistischen Mudschaheddin-Gruppen der späteren Nordallianz vorgingen. Deren Machtanspruch suchten damals die Taliban zu entkräften, indem sie sich als eine gesamtafghanische Kraft darstellten, die im Namen des Islam religiöse und ethnische Spaltungen zu überwinden suchte. Polarisierend wirkte sich jedoch aus, dass das Islamverständnis der Taliban durch zwei spezifische Faktoren geprägt war: der islamische Einfluss der aus Nordindien/Pakistan stammenden puristischen Deobandi-Schule und der Einfluss des Pashtunwali, des „Ehrenkodex“ der paschtunischen Stämme.

Doch entzündete sich der eigentliche Widerstand gegen die Taliban nicht an ihrer radikalen Version des Islam, sondern daran, dass sie ab 1997 lediglich als Vertreter paschtunischer Interessen wahrgenommen wurden. Das bestätigt, dass letztlich die ethnisch-tribale Konfrontation der entscheidende Faktor ist. Einerseits begründet er die Loyalität zwischen dem Führer und seinen Anhängern aus der gleichen Ethnie oder dem gleichen Stamm. Andererseits macht er die Führer mit ihrer Gefolgschaft zu Konkurrenten um die Macht in einer Region oder im nationalen Zentrum Kabul.

Von der Fähigkeit, diese konkurrierenden Gruppen in eine nationale Interessenallianz einzubinden, hängen die Stärke der Kabuler Zentralgewalt und die Einheit der afghanischen Gesellschaft ab. Wie die von ständigen Machtkämpfen geprägte Geschichte des 1747 gegründeten Staates zeigt, ist das eine kaum zu bewältigende Aufgabe in dem Vielvölkerstaat Afghanistan.

Eine historisch tief verwurzelte Spannung besteht zwischen den paschtunisch-sprachigen und den dari/persisch-sprachigen Bevölkerungsgruppen. Politisch spiegelt sich das heute in dem Machtkampf zwischen den Taliban als den Exponenten des konservativsten Teils der Paschtunen (Durrani-Stämme um die Stadt Kandahar) und der Nordallianz wider. Doch wird dieser grundsätzliche Gegensatz kompliziert durch Rivalitäten zwischen verschiedenen ethnischen Führern mit nur lokaler oder regionaler Gefolgschaft. Das ermöglicht wechselnde Allianzen, sichtbar daran, dass sich lokale Kommandanten mal von den Taliban und mal von der Nordallianz mit Geld und Waffen kaufen lassen.

Der „ethnische Fleckenteppich“ Afghanistan lässt sich quantitativ nicht genau bestimmen, da nie ein Zensus durchgeführt wurde. Auch hat der 23- jährige Krieg Millionen von Toten und enorme Flüchtlingsbewegungen verursacht. Derzeit wird die Gesamtbevölkerung auf 21 bis 23 Millionen Menschen geschätzt, von denen seit den US-Militärschlägen etwa vier Millionen erneut auf der Flucht sind. Das Fehlen von Zahlen hat konkrete politische Auswirkungen, denn nach welchem Schlüssel soll in einer Nach-Taliban-Regelung die Allparteienregierung zusammengesetzt werden?

Alle Angaben, die in zukünftige politische Verhandlungen einfließen, stammen aus der Zeit vor dem sowjetischen Einmarsch. Damals wurden insgesamt 55 verschiedene ethnische Gruppen festgestellt. Gerade im Norden, aber auch begrenzt im paschtunischen Landesteil gibt es ethnisch stark gemischte Gebiete. Das erhöht das Risiko, durch lokale Machtkämpfe die Befriedungsbestrebungen einer zukünftigen Interimsregierung zu unterlaufen.

In politischer Hinsicht lässt sich die ethnische Vielfalt auf vier relevante Volksgruppen und wenige prominente Führer reduzieren. Die Paschtunen mit einem geschätzten Bevölkerungsanteil von 40 Prozent gelten als „Herrschaftsvolk“. Aus ihrem weit verzweigtem Stammesverband sind alle Herrscher gekommen, so auch der seit 1973 im römischen Exil lebende König Zahir Schah. Auf dessen nationale Symbolkraft bei Paschtunen wie anderen Ethnien setzen die Verfechter eines politischen Prozesses, den der Ex-König autorisieren soll.

Ohne eine entscheidende Mitwirkung von Paschtunen ist keine Interimsregierung vorstellbar. Deshalb werden jetzt die Entwicklungen im paschtunischen Süden und Osten so genau verfolgt, denn diejenigen Führer, die sich in den nächsten Wochen gegen die Taliban erheben, können mit einem Sitz in der Interimsregierung rechnen.

Historisch wie auch aktuell militärisch bilden die dari-sprachigen Tadschiken die zweitwichtigste Gruppe, früher auf etwa 24 Prozent der Bevölkerung geschätzt. Sie sind ein geographisch verstreuter, heterogener ethnischer Verband. Die wichtigste Kraft innerhalb der Nordallianz stellen sie dank der überragenden Rolle von Ahmed Schah Massud aus dem Pandschir-Tal, der am 14. September 2001 den Folgen eines Selbstmordattentats durch Osama bin Ladens Beauftragte erlag. Sein Nachfolger, der Pandschiri-General Fahim Hakim, profitiert jetzt am stärksten von der militärischen Unterstützung durch die USA, Russland und andere Staaten. Politisch dürften die Tadschiken jedoch später durch andere Persönlichkeiten vertreten werden. Hier bahnen sich schon Machtrivalitäten an. Bislang arbeiten die bisherigen politischen Vertrauten Massuds noch mit dem nominellen Präsidenten Burhanuddin Rabbani zusammen. Doch dürften sie nach einem Sturz der Taliban ihre eigenen Ambitionen verfolgen.

Auf den Nordwesten Afghanistans konzentrieren sich die Usbeken, früher mit einem Bevölkerungsanteil von neun Prozent. In der militärischen Offensive gegen die Taliban spielt ihr Führer, General Abdul Raschid Dostum, eine wichtige Rolle. Wenn er sein früheres Gebiet zurückerobert, können die USA ihren militärischen Nachschub direkt von Usbekistan in den flachen Nordwesten Afghanistans bringen. In politischer Hinsicht stellt Dostum allerdings aufgrund früherer Menschenrechtsverletzungen und Korruption eine schwere Belastung für die Nordallianz dar.

In den 90er Jahren haben sich die Hazaras, angesiedelt im zentralen Bergland um die Stadt Bamiyan, eine wichtige politische Rolle im zukünftigen Afghanistan erkämpft. Ob der früher geschätzte Anteil von nur sieben Prozent zutrifft, ist unsicher. Die Hazaras sind überwiegend Schiiten, bis vor kurzem wurden sie verachtet und von allen ethnischen Gruppen brutal bekämpft. Beim jetzigen militärischen Vordringen der Nordallianz werden sie dank ihres harten Einsatzes und ihrer strategischen Lage unerlässlich sein. Auch wenn sich ihr politischer Führer Karim Khalili derzeit noch im iranischen Exil zurückhält, so wird er eine prominente Funktion einfordern.

Historische Friedenschance

Schließlich ist noch der militärische Führer Ismail Khan zu nennen, der als Mitglied der Nordallianz hofft, bald die Stadt Herat zurückzuerobern. Herat ist ein dari-sprachiges Zentrum mit einer gemischten ethnischen Bevölkerung und bildet das strategische Einfallstor in das südliche Kernland der Taliban. Ismail Khan verschleiert seine, wahrscheinlich tadschikische Zugehörigkeit, unterhält enge Beziehungen zum Iran und gehört zu Präsident Rabbanis Partei.

Ethnische Unterschiede und militärische Rivalität haben eine gefährliche Mischung aus widerstreitenden Interessen, persönlichem Misstrauen und Verbindungen zu Regierungen und Militärbasen außerhalb Afghanistans geschaffen. Aus diesen Gründen eskalierte der Krieg in den 90er Jahren wieder. Nun hat eine neue internationale Konstellation eine historische Chance eröffnet, nach dem Sturz der Taliban einen politischen Befriedungsprozess einzuleiten.

Die afghanische Geschichte zeigt, dass den Afghanen von außen keine Lösung aufgezwungen werden darf. Deshalb weist ein durch den Ex-König einberufener politischer Prozess einen gangbaren Weg. Doch sind die Risiken groß, dass die internen Streitigkeiten die Verständigung über eine Allparteienregierung scheitern lassen. Daran werden sich auch Exilgruppen beteiligen, die bislang in ihren Gastländern untereinander konkurriert haben, so auch Vertreter der inzwischen etwa 90000 in Deutschland lebenden Afghanen. Angesichts der zahlreichen Interessengegensätze scheint ein durch die Vereinten Nationen gewährleisteter Rahmen notwendig zu sein, um Spannungen einzudämmen.

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Mathe gegen Taliban
Damit in Afghanistan Mädchen unterrichtet werden können, bedarf es vieler Schleichwege und Tricks

Von Sabine Etzold      Die Zeit

Als Peter Schwittek 1998 in Kabul die Leitung von COFAA, einem Verbund nationaler Caritas-Organisationen, übernahm, wollte er eigentlich gleich weiterreisen. Weg aus der Großstadt, hinaus in die Dörfer, wo die Taliban den Alltag nicht ständig kontrollieren und die Hilfsorganisationen seltener am Arbeiten gehindert werden. Da bekam er überraschenden Besuch. Eine Abordnung von Mullahs trat in sein Büro und bat um Hilfe bei einem besonderen Projekt: der Einrichtung von Schulunterricht in den Moscheen. Obwohl Schwittek das Land gut kennt - von 1973 bis 1977 hatte er an der Universität von Kabul Mathematik gelehrt -, war er erst einmal perplex. "Weltlicher" Unterricht in den Moscheen - auch für Mädchen? "Selbstverständlich", wurde er belehrt. Im Islam gehöre es zu den heiligen Pflichten Geistlicher, für Wissen und Erkenntnis aller Menschen zu sorgen, der Männer wie der Frauen.

Mit ihrem Projekt wollten die Mullahs in diesem von Nöten geplagten Land eines der größten Übel lindern: den Bildungsnotstand. Auch der ist das Resultat einer unseligen historischen Entwicklung. Da wurde Anfang des Jahrhunderts ein Schulsystem nach westlichem Muster eingeführt, mit Zeugnissen, Sitzenbleiben und allem, was dazugehört. In den größeren Städten gab es sogar Mädchengymnasien. Unter kommunistischer Herrschaft wurden dann die Staatsschulen als "fortschrittsorientiert" protegiert, die Koranschulen in die Illegalität abgedrängt.

Als die Kommunisten vertrieben waren, entlud sich der angestaute Hass der Traditionalisten auch auf das staatliche Bildungswesen. Die Schulen wurden geplündert, nicht selten in die Luft gesprengt. 1998 wurden unter dem Taliban-Regime alle Mädchenschulen geschlossen. Auch der Zustand der Jungenschulen ist inzwischen beklagenswert. Oft haben die Schulräume keine Fenster, die geplünderte Ausstattung wurde nie ersetzt, die Lehrer sind schlecht ausgebildet und mit höchstens sechs Dollar im Monat so schlecht bezahlt, dass sie sich mit Schuheflicken oder Zigarrettenverkauf durchschlagen. Regulärer Schulunterricht findet kaum noch statt. Peter Schwittek schätzt, dass nach diesem langen Krieg die jüngsten Afghanen, die noch eine richtige Ausbildung haben, 45 Jahre alt sind. Und von denen hat jeder, der konnte, das Weite gesucht.

Schulbildung ist in Afghanistan Mangelware und daher geschätztes Gut, weil sie die Chance bietet, dem Land den Rücken zu kehren. Das Volk leidet "Bildungshunger", und längst gibt es einen illegalen Bildungsmarkt - vor allem für Mädchen. Home-Schooling floriert. Lehrer, meist sind es Lehrerinnen, unterrichten heimlich in Privathäusern, wo sich mehrere Kinder der Umgebung versammeln. Private Organisationen betreuen diese Programme, wie etwa die Hilfsorganisation Schuhada der afghanischen Ärztin Sima Samar, die ihre Fäden von Pakistan aus zieht.

Aber dieses Home-Schooling ist nach Ansicht von Schwittek ein heikles Unterfangen. Zum einen haben Sponsoren und Organisatoren fast keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob der Unterricht tatsächlich stattfindet. Zudem arbeiten sie ständig unter den argwöhnischen Augen der Taliban. Und die sind völlig unberechenbar. Mal scheinen sie den privaten Unterricht zu tolerieren, dann wieder gehen sie mit Gewalt dagegen vor. "Einige Lehrer verschwanden und wurden nie wieder gesehen", sagt Schwittek. Inzwischen ist Home-Schooling per Erlass von Ab'r Mahruf, der Religionspolizei, verboten worden.

Vor diesem Hintergrund erschien Peter Schwittek das Projekt der Mullahs wie "das Ei des Kolumbus"; Schulunterricht in Moscheen, verantwortet von Mullahs - das System nicht bekämpfen, unterlaufen oder umgehen, sondern für die eigenen Zwecke nutzen. Wer so verfährt, muss die Verhältnisse allerdings genau kennen. Die wichtigste Lektion für Schwittek war: "Mullahs sind nicht gleich Mullahs". Die muslimischen Führer sind keineswegs immer identisch mit den Repräsentanten der Taliban-Bewegung, die ihren geistlichen Nachwuchs in Crash-Kursen in Pakistan nachqualifizieren lässt. "Allmählich beginnt auch den Taliban zu dämmern, dass man die Schaltstellen in den Behörden und Ministerien nicht nur mit ungebildeten Wilden besetzen kann."

So gelangten auch Geistliche, die nicht unbedingt mit den Taliban übereinstimmen, in Machtpositionen und wurden zu Verhandlungspartnern. Schwittek merkte, dass die Macht von Erziehungsministerium und Religionspolizei nicht grenzenlos ist. Sie endet an den Türen der Moscheen. So signalisierte ihm das Ministerium für Islamische Angelegenheiten, dass es zwar die Erlasse der Religionspolizei auf keinen Fall missachten werde, aber man sei gewillt, das Schulprojekt in den Moscheen wohlwollend zu begleiten.

Noch in der ersten Jahreshälfte 1998 ging es los. "Ein furioser Auftakt", erinnert sich Schwittek. Das Projekt lief zunächst in sechs, dann in zehn Moscheen Kabuls: Unterricht für Jungen und Mädchen, erst mal bis Klasse vier. Zwei Unterrichtseinheiten finden sehr früh, nach dem Morgengebet von sechs bis halb acht, statt, zwei weitere am späten Nachmittag. So können die Lehrer, die hier mit umgerechnet 22 Dollar im Monat deutlich besser bezahlt werden als ihre Kollegen im Staatsdienst, nebenher regulär an den Staatsschulen weiter unterrichten.

In den Moscheen werden die Sprachen Arabisch, Persisch, Paschtu und Urdu gelehrt. Und auffallend viel "Mathematik". Dafür gibt es einen besonderen Grund. Mathematik ist der Tarnname für naturkundlichen Unterricht. Hieße der Biologie oder Astronomie, würde er leicht die Aufmerksamkeit der "höheren Herrschaften" auf sich ziehen. "Dass der Mond sich um die Erde dreht, das darf ja nicht sein", sagt Schwittek. Aber als mittlerweile brillanter Taktiker nimmt er es gelassen: "Solche Auseinandersetzungen erlebt man genauso im Mittleren Westen der USA."

Der Zulauf zu den Moscheeschulen war riesig. Ende 1999 zählten sie 13 500 Schüler, fast die Hälfte davon Mädchen. Der Platz wurde knapp, die Kinder sitzen dicht gedrängt in den Gärten und Höfen. Und da die Mädchen nicht außerhalb der Moscheen unterrichtet werden dürfen, erfochten die Mullahs wenigstens für die Jungen die Sondererlaubnis, in externe Gebäude auszuweichen. Die Anordnung, nur bis zur vierten Klasse zu unterrichten, haben die Schul-Moscheen unterlaufen. Sie "vergaßen", die Kinder am Schuljahresende nach Hause zu schicken. Auf diese Weise existiert jetzt eine fünfte Klasse.

Ein leichter Sieg aber war es nicht. "Es gab eine Krise nach der anderen", sagt Schwittek und zählt die taktischen Meisterleistungen auf, mit denen sich das Projekt den Segen der Taliban einheimste. Erst wurde der Minister für Islamische Angelegenheiten ausgekontert. Nach dessen Verweis, Schreiben sei nichts für Mädchen, das Geld für Hefte und Bleistifte könne man sich sparen, wandte sich Schwittek an die Beamten des Ministeriums, von denen er vermutete, dass sie nicht mit den Taliban sympathisieren. Die bewältigten die Krise auf die bürokratische Tour: "Das ignorieren wir. Wir sagen, jetzt mitten im Schuljahr gehe das nicht. Und dann ist das vergessen."

Ein zweiter Trick festigte diesen Sieg. Der stellvertretende Minister, selbst Imam in einer Moschee und auf der Seite der Bildungsoffensivler, ließ gezielt das Gerücht verbreiten, in den Moscheeschulen würden auch ältere Mädchen unterrichtet. Ein Skandal! Verunreinigen da etwa pubertierende Mädchen durch ihre Anwesenheit den heiligen Ort? Umgehend entsandte das Ministerium eine Kommission, um der Sache nachzugehen. Natürlich fanden sich dort keine erwachsenen Mädchen, dafür sehr viele bestens vorbereitete kleine, die mit religiösen Grundkenntnissen glänzten. Die Kommission war beeindruckt. In ihrem Bericht empfahl sie, das Programm auf ganz Afghanistan auszudehnen.

Die Rechnung ging auf. Inzwischen segelt das Projekt im Windschatten der Taliban-Aufmerksamkeit. Als im vergangenen Frühjahr der Anteil des Religionsunterrichts an den Staatsschulen auf 50 Prozent erhöht wurde, hatte man die Moscheeschulen glatt vergessen. Mit dem paradoxen Resultat, dass dort nur sechs Stunden Religion pro Woche gelehrt werden. Ausgerechnet in den Moscheen ist nun der Anteil an "weltlichem" Unterrichtsstoff so hoch wie sonst nirgends im Land.

Unterlaufen, Schleichwege suchen, mit den richtigen Leuten verhandeln: Das ist nach Schwitteks Erfahrung der einzige Weg, in Afghanistan politisch und gesellschaftlich etwas zu erreichen. Letztlich aber braucht jedes Projekt Hilfe von außen. Damit war es Ende 2000 fast vorbei. Da sich in diesem schwierigen Land oftmals wenig Einfluss nehmen lässt, schloss die Caritas wie viele andere internationale Hilfsorganisationen ihr Kabuler Büro - ohne die Unterstützung für das Schulprojekt ganz aufzugeben. Die Federführung hat der in Deutschland registrierte Verein Ofarin übernommen, die Organisation zur Förderung afghanischer regionaler Initiativen und Nachbarschaftshilfen.

Und was wird jetzt, nach dem Anschlag in den USA, aus dem Schulprojekt? "Wenn sich ausreichend Spender finden, dann läuft das weiter." Und vielleicht - Peter Schwittek gerät ins Träumen - "können ja dort dann auch die Mädchen irgendwann wieder mal das Abitur machen".

Wie kann man bin Laden stoppen, Frau Bhutto?
Frage an Pakistans Ex-Regierungschefin

Quelle www.Bild.de


Benazir Bhutto (48) war zweimal Pakistans Regierungschefin (1988–90, 1993–96). Jetzt beobachtet sie mit großer Sorge die Kriegsgefahr in Pakistans Nachbarland Afghanistan.

BILD: Frau Bhutto, Anhänger von Osama bin Laden versuchten zweimal, Sie zu ermorden. Was sollte der Westen gegen islamische Extremisten tun?

Benazir Bhutto: Gewalttätige Fundamentalisten fügen dem Islam und der ganzen Menschheit Wunden zu! Sie müssen davon abgehalten werden, ihren Terror zu verbreiten. Wir müssen zusammenarbeiten, um das zu gewährleisten.

BILD: Kann bin Ladens Terrornetz überhaupt zerstört werden?

 

Benazir Bhutto: Ja, das ist möglich – sofern Pakistan wieder eine wahrhaft demokratische Regierung bekommt! Mein Rat an die USA: Der Weg nach Kabul führt nur über Pakistans Hauptstadt Islamabad! Leider ist mein Land zu einem Tummelplatz sektiererischer Mörder geworden, die Massengräber hinterlassen. Manchmal scheint es, als gebe es einen Staat im Staat.

BILD: Die afghanischen Taliban wollen Osama bin Laden nicht ausliefern. Werden sie im Falle von US-Angriffen einen Glaubenskrieg entfachen?

Benazir Bhutto: Solange man die Politik des Terrors nicht stoppt, sehe ich diese Gefahr! Ich bekomme Berichte über religiöse Schulen in Ägypten, auf den Philippinen und Malediven, die militante Moslems im Fach Gewalt ausbilden. Es sollen sogar Schüler aus England zum Training kommen...

BILD: Wer finanziert bin Laden und andere Terror-Clans?

Benazir Bhutto: Pro-westliche islamische Länder, die auch den afghanischen Volksaufstand organisiert haben, sowie einige Geldgeber aus Europa und den USA. Doch die konkrete Unterstützung vor Ort leisten pensionierte pakistanische Offiziere, die enormen Einfluss auf unser Militär und den Sicherheitsapparat gewonnen haben.

 

Wer könnte die Taliban ablösen ?
Nach einem Krieg: Rückkehr zur Monarchie eine Lösung?


Taliban-Anhänger sind deutlich in der Minderheit

Die Taliban haben nach Experteneinschätzung die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung gegen sich. Ethnische und religiöse Konflikte spalteten das Volk in verschiedene Gruppen auf, sagte der Berliner Islamwissenschaftler Peter Heine im Gespräch mit n-tv.de. "Das war noch nie ein Land mit ausgeprägter Zentralmacht. Das wird auch so bleiben." Sollten die USA einen großen Feldzug in Afghanistan führen und eine neue Herrscherelite etablieren, könnten sie sich auf Exilanten, aber auch auf den greisen Ex-König Zahir besinnen.

"Mohammed Zahir Schah lebt seit seinem Sturz 1973 in Rom und ist inzwischen um die 90 Jahre alt. Aber er hat natürlich Nachkommen, die für die Staatsspitze in Betracht kämen", sagte Heine. "Viel wahrscheinlicher ist aber, dass die USA auf die Elite afghanischer Emigranten setzen, die rund um die Welt verteilt sind." Auch die von den Taliban gestürzte formale Exil-Regierung käme in Betracht.


"Seit Alexander holten sich hier alle eine blutige Nase"

Die Taliban-Führer entstammen vor allem dem Volksstamm der Paschtun, der etwa 60 Prozent des afghanischen Volkes ausmacht. "Die Paschtun stellen seit Jahrhunderten die Herrscherklasse und gelten als besonders erfolgreiche Krieger mit eigenem Ethos" , erklärte Heine.

Es sei bezeichnend, dass die Taliban angesichts der amerikanischen Kriegsvorbereitungen mehr als 20.000 Mann nahe des Khyber-Passes sammelten. "Am Khyber-Pass haben die Afghanen zwei Mal die Briten vernichtend geschlagen. Das ist ein nationaler Mythos. Seit Alexander dem Großen bis hin zur Sowjetarmee haben sich bisher alle eine blutige Nase in Afghanistan geholt."

Erfahrene Kämpfer mit schlecht ausgebildeten Theologen

So kämpferisch begabt die Taliban auch gelten: Ihre geistlichen Führer sind mit ihrem "ländlichen Islam" nach Heines Ansicht weit von den Maßstäben eines reinen moslemischens Glaubens entfernt. "Im Vergleich zu den maßgeblichen islamischen Geistlichen in Ägypten haben die Taliban-Führer große Bildungsdefizite bei der Auslegung der Schriften."

Auch die Selbstmordattentate, die nach dem Islam verboten sind, hält der Wissenschaftler für "ein Phänomen, das sich im Taliban-Exil in Pakistan gebildet hat". Diese Gewalt rief Gegner aus den schiitischen Glaubenslager hervor. Hinzu kämen die Gegensätze zwischen den verschiedenen Volksgruppen wie Usbeken, Belutschen und Hazera. Eine Sonderrolle spielen laut Heine die Nomaden. Sie stellen ein Fünftel der Bevölkerung. "Sie sind kaum erreichbar. Viele von denen wissen gar nicht, dass Krieg droht."

Afghanistan Land ohne Hoffnung
Mehr als eine ganze Generation ist im Krieg groß geworden

Elke Windisch 2001 © PNN online

Apathisch erwartet die Mehrheit der Afghanen ihr Schicksal: Während sich die letzen Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisation in die pakistanische Hauptstadt Islamabad ausfliegen lassen oder das Land in gepanzerten Landrovern verlassen, herrscht auf dem Basar von Kabul business as usual. "Ist doch egal, woher die Bomben fliegen", sagte ein Gemüsehändler dem russischen Fernsehen. Dass eines Tages keine Bomben mehr fliegen könnten, liegt nach der Invasion der Sowjets im Dezember 1979 und dem anschließenden Bürgerkrieg außerhalb jeder Vorstellungskraft. Mehr als eine ganze Generation ist im Kugelhagel aufgewachsen und gewohnt, einen tagtäglichen Kampf ums Überleben zu kämpfen.

In einer Erhebung, die das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung von insgesamt 174 Staaten weltweit erfasst, rangiert Afghanistan auf Platz 169. Die afghanische Wirtschaft in Zahlen zu fassen, berichtet die Weltbank in ihrer jüngsten Untersuchung, sei fast unmöglich, weil es seit Jahren nur Mutmaßungen und keinerlei Statistik gäbe. "Das Land gehört zu den ärmsten der Erde", heißt es. Wirtschaft und Infrastruktur wurden erst durch sowjetische Invasoren und dann im nachfolgenden Machtgerangel zwischen der paschtunischen Mehrheit und der tadschikischen Minderheit zerstört. Seit der Machtübernahme der Taliban 1996 schlagen sich die Menschen mit Drogenhandel, illegalen Waffengeschäften und dem ebenfalls illegalen Transithandel mit hochwertigen Konsumgütern, an dem auch Gangs aus Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten beteiligt sind, durch. Diesen Bedürfnisse ordnen sich auch die wenigen Investitionen der Taliban in die Infrastruktur unter: Import von Mobiltelefonen, Straßenbau, Tankstellen und Autowerkstätten sowie der Wiederaufbau des Stromnetzes in größeren Städten.

Rund 90 Prozent der Bevölkerung sind inzwischen direkt und indirekt in Drogenhandel und -anbau involviert. Auch das offizielle Verbot der Taliban zum Anbau von Mohn, dem Rohstoff von Heroin, hat bis jetzt nicht verhindert, dass Afghanistan zu den größten Drogenherstellern der Welt gehört. Dazu kommt, dass ganz Zentralasien bereits das dritte Dürrejahr in Folge durchmacht, weshalb das Land nur zu 20 Prozent seinen Bedarf an Brotgetreide - für viele einziges Nahrungsmittel - aus eigenem Aufkommen decken kann. Hilfsorganisationen - schon früher oft bedroht durch die Taliban - sind zur wichtigsten Ernährungsquelle der Menschen geworden. Die Bevölkerung Afghanistans ging seit 1996 von 21,5 auf 16 Millionen Menschen zurück. Insgesamt 5,3 Millionen Flüchtlingen werden gezählt. Verloren hat das Land vor allem ausgebildete Arbeitskräfte. 70 Prozent aller Afghanen über 15 Jahre, vermutet die Weltbank, können weder lesen noch schreiben.

Dabei bietet das Land durchaus die Grundlage für eine eigenständige Wirtschaft. In Ainak, rund 35 Kilometer südlich von Kabul, vermuten Wissenschaftler die mit zehn Milliarden Tonnen wohl größte Kupfermine der Welt. Weiter im Norden lagern mehr als 40 Milliarden Tonnen Öl und 80 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Und die zentrale Lage des Landes böte den Afghanen eine lukrative Einnahmequelle aus Transitgebühren für Öl, Gas und andere Waren, die zwischen Europa und den arabischen Ländern gehandelt werden.

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Dr. Chaled ist Afghane und lebt in Rheinberg

,Wir sind kein Volk des Terrors`

Dr. Chaled lebt in Rheinberg ist betroffen über die Vorurteile gegenüber seinen afghanischen Landsleuten.

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RHEINBERG (RP). Gestern Nachmittag stand ein Bekannter vor der Haustüre von Dr. Kabir Chaled. "Er hielt mir einen Koran entgegen und hat gesagt: ,Jetzt zeig` mir mal, wo steht, dass man unschuldige Menschen töten darf`," schildert der ehemalige Vorsitzende des Rheinberger Ausländerbeirates. "Natürlich steht das nirgendwo" stellte der promovierte Chemiker klar, der 1981 aus dem vom Bürgerkrieg erschütterten Afghanistan nach Deutschland kam, "natürlich sind auch meine Familie und ich zu tiefst erschüttert über den Terror-Anschlag in den USA."

Umso betroffenener ist Dr. Chaled von der Reaktion vieler Menschen nach den schrecklichen Ereignissen
in New York und Washington: "Manche sagen zu uns jetzt ,Ihr seid doch alle Terroristen`." Einige sogar: "Ihr Mörder."

Allzuschnell den Stab gebrochen

Über Moslems werde in diesen Tagen allzu schnell der Stab gebrochen. Vorurteile richteten sich vor allem gegen die Menschen in bzw. aus Afghanistan und holten seine Kinder selbst in der Schule ein, bedauert der Millinger. "Dabei sollte allen bewusst sein, das der von vielen als Drahtzieher gesehene Osama bin Laden gar kein Afghane ist. Er stammt aus Saudi Arabien und hat sich in Afghanisstan nur versteckt."

Und auch wenn in Afghanistan die radikalen Taliban regieren, mache das nicht gleich alle seine Landsleute zu einem Volk von Terroristen, unterstreicht der 63-Jährige: "Die meisten Taliban sind Pakistani, die einen radikalen Islam in unser Land gebracht haben, den die Afghanen gar nicht gekannt und auch nicht gewollt haben." Zwischen der Spitze der Taliban und Osama bin Laden gebe es übrigens sogar verwandtschaftliche Beziehungen: Eine Frau des von den westlichen Geheimdiensten als Top-Terrorist eingestuften bin Laden sei Tochter des Taliban-Mulla Omar.

Tiefe Trauer

Die Taliban regieren mit überaus harter Hand, vor allem die Frauen werden unterdrückt. Und nun sieht Dr. Chaled sein Volk auch noch von den Reaktionen nach den Terror-Attacken in den USA bedroht. "Wir sind tief traurig darüber, dass in Amerika so viele unschuldige Menschen starben. Und wir fürchten, dass nun auch wieder Unschuldige leiden oder sogar sterben müssen. Denn die, die die Angriffe gegen die Amerikaner geplant haben, waren schlau - sie werden auch so schlau sein, dass sie den Vergeltungsschlägen entkommen können."

Von RAINER KAUSSEN

 

Furchtbarer Terror - doch kein Krieg
Der WDR 4 Kommentar

Der Tag danach: Noch ist die Welt im Schock, noch sind die Toten nicht geborgen und gezählt, noch kennt man die Täter nicht und nicht die Folgen.
Angst hat die Menschen auch bei uns ergriffen, Angst vor einem unerklärten Krieg aus dem Dunkel eines wahnsinnigen, unberechenbaren Untergrunds. Können wir uns schützen, müssen wir zurückschlagen?
Zum furchtbarsten Terroranschlag der Geschichte:

von Hubert Maessen.


Nein, es ist kein Krieg, es ist auch keine Kriegserklärung an die zivilisierte Welt, wie unser Bundeskanzler heute morgen im Bundestag formulierte. Das gestrige monströse Verbrechen so zu sehen, bedeutet doch, dass wir uns die irre Sicht der bislang anonymen Mörderbande zu eigen machen. Wäre es ein Krieg, dann hätten sich die hochgerüsteten USA ganz bestimmt schützen können. Nutzlos sind aber die Waffen, Methoden und Regeln des Krieges, wenn man es mit skrupellosen Verbrechern, mit fanatischen Terroristen zu tun hat, die aus dem Untergrund zuschlagen und denen das eigene Leben so wenig gilt wie das ihrer unschuldigen Opfer. Deshalb führt auch der Vergleich mit Pearl Harbor in die Irre. Damals, 1941, da kannte man den Gegner, da konnten die USA Krieg führen gegen Japan und auch gegen Hitler-Deutschland. Aber jetzt? Wer ist denn der Gegner? Ist es der berüchtigte millionenschwere Saudi Osama Bin Laden, der bei den Taliban in Afghanistan untergeschlüpft sein soll? Und wenn: Wäre der Terror vorbei, indem man ihn oder andere Täter zur Strecke brächte, wie es der amerikanische Präsident George Bush versprochen hat? Würde er nicht gar zum Märtyrer, den zu rächen neue Terroristen antreten würden?

Ja, der "Titanic"-Schock, der uns alle getroffen hat, der rührt auch daher, dass wir nicht nur Ohnmacht spüren, sondern auch Ausweglosigkeit ahnen. In unserer volltechnisierten Welt mit phantastischen Maschinen, komplexen Vernetzungen und weltweiten Abhängigkeiten, mit riesigen Häusern, Mega-Kraftwerken, pfeilschnellen Zügen und Super-Jumbos, mehr, mehr, größer, schneller! sind wir auch immer verletzlicher; wir schaffen die Waffen selber, mit denen wir verwundbar sind. Es waren ja amerikanische Flugzeuge, aus denen die Attentäter sich ihre Bomben machten. Und das waren keine Wüstensöhne, die mit Vorderladern rumballern, das waren technisch gebildete Profis, die ihren Hass in eiskalte Action verwandeln konnten, und ihren ebenso grauenhaften wie raffinierten Plan perfekt umsetzten. Sie wollten die USA demütigen und quälen, sie wollten den Amerikanern Angst machen, und sie wollten Rache nehmen, wofür auch immer. Das alles ist ihnen fürs erste gelungen. Sie haben tatsächlich etwas geschafft, was die USA noch nie erlebt hatten und um jeden Preis verhindern wollten: zum ersten Mal in ihrer Geschichte sind sie auf ihrem Festland angegriffen, bombardiert worden, sie waren wehrlos und hatten an einem einzigen Tag Tausende von Toten und Verletzten, von den in die Milliarden gehenden Schäden ganz zu schweigen. Das muss diese unbändig selbstbewusste Nation ins Mark treffen, das muss sie traumatisieren.

Man kann den nun wütenden Rachedurst der Amerikaner verstehen, ja, das kann man. Aber auch mit Vergeltungsschlägen folgte man der Logik der Terroristen, Rache kann nicht die Antwort sein. Die Antwort muss sein, gemeinsam eine Welt zu organisieren, die Frieden und Gerechtigkeit achtet, und in der Abwehr von Terror und anderer organisierter Kriminalität zusammensteht. Die USA sollten in ihrem gerechten Zorn auf Alleingänge verzichten und die internationale Gemeinschaft suchen. Auch deshalb, weil der Angriff nicht nur ihnen galt. Er galt, und da hat der Bundeskanzler nun doch recht, er galt der ganzen schönen, unvollkommenen und so leicht verletzlichen Welt, in der wir leben und leben wollen.

 

Kamikaze-Angriffe gegen die Supermacht USA
Gibt es jetzt Krieg, Herr Scholl-Latour?

von PETER SCHOLL-LATOUR

Als „Koloss auf tönernen Füßen“, so ist die Weltmacht USA plötzlich dem weltweiten Fernseh-Publikum erschienen. Es war das Horror-Szenario eines Films über den Weltuntergang, als die beiden gigantischen Türme des „World Trade Centers“ zusammenbrachen. Die Attentäter haben ihr Ziel erreicht. Mit den Kamikaze-Angriffen auf das Herz von New York wollten sie das Symbol einer Globalisierung treffen, die in Wirklichkeit eine globale Amerikanisierung ist. Mit dem Vernichtungsschlag gegen das Pentagon sollten die Unbesiegbarkeit, die Unverwundbarkeit der übermächtigen Supermacht widerlegt, ja, lächerlich gemacht werden.


Natürlich ist das militärische Potential der USA durch diese sensationelle Terror-Aktion, die über eine unglaubliche Präzision in Synchronisierung und Ausführung verfügte, nicht ernsthaft angeschlagen worden. Aber die psychologischen Folgen sowohl innerhalb der Vereinigten Staaten als auch im Ausland – bei Freund und Feind – sind unermesslich. Dagegen war der vernichtende Angriff der japanischen Luftwaffe gegen die US-Pazifik-Flotte von Pearl Harbour im Dezember 1941 eine Randerscheinung. Die Unzulänglichkeit der amerikanischen Nachrichtendienste ist auf bestürzende Weise bloßgelegt worden. Nun läuft die Suche nach den Tätern, nach den mit allen technischen Raffinessen operierenden Urhebern, die dazu noch den eigenen Tod auf sich nahmen, auf vollen Touren.

Sofort wurde der Name Osama bin Laden genannt. Diese aus Saudi-Arabien stammende und in Afghanistan lebende Verkörperung islamistischer Gewalttätigkeit wurde ja bereits der Sprengung der amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania bezichtigt. Die Reaktion der US-Streitkräfte auf diese Herausforderung war damals eher kläglich. Ein paar Raketen wurden auf ein leeres Ausbildungslager in Afghanistan und auf eine pharmazeutische Fabrik im Sudan verschossen. Bei dem Schlag gegen New York haben sich die palästinensischen Kampforganisationen schleunigst von dieser apokalyptisch anmutenden Horror-Tat distanziert. Was so erschreckend ist an diesem geballten Vernichtungsschlägen des „Fünften Reiters“ ist die Kombination von religiösem Fanatismus, der in Selbstaufopferung gipfelt, mit einer logistischen Organisationsstruktur, die man Orientalen normalerweise nicht zutraut. Es kann sich nur um eine Allianz todesbesessener Gotteskrieger einerseits und hochvermögender Finanziers andererseits handeln, die in USA über ausreichende Infrastruktur und hochgeschultes Personal verfügen. Da verweisen alle Vermutungen auf ein Zusammenspiel zwischen afghanischen Mudschahidin und saudi-arabischen Drahtziehern hin. Als Piloten könnten Palästinenser fungiert haben.

 

Amerika hat in dieser tragischen Stunde das Gesicht verloren. Mag sein, dass CIA und FBI in vereinter Aktion eine Anzahl Hintermänner festnehmen können. Die Explosionswolke über New York, das in den Augen der Araber als das Zentrum weltweiten jüdischen Einflusses gilt, die Trümmer des Pentagons, die Panik, die sich vorübergehend der amerikanischen Bevölkerung bemächtigte, dürften zahlreiche neue Eiferer zu Nachahme-Taten inspirieren. Von einer Beilegung des blutigen Konflikts um das Heilige Land kann nun gar nicht mehr die Rede sein. Alle arabischen Potentaten, die bisher Rückendeckung und Schutz unter den Fittichen der amerikanischen Hegemonialmacht suchten, müssen nun den tobenden Zorn der eigenen Bevölkerung fürchten, die jede Kollaboration mit Washington als Komplizenschaft mit Israel deuten. So lange der Gegner des Westens Saddam Hussein hieß, konnte die „freie Welt“ ruhig schlafen. Damit ist es jetzt vorbei. Sollten die Europäer sich allzu aktiv in diesem Hexenkessel mörderischer Intrigen engagieren, sind sie ja viel leichter zu erpressen, als die USA jenseits des Atlantik. Selbst Russland, das gegen die Muslime des Kaukasus in Tschetschenien, gegen die vordrängenden Taleban in Zentral-Asien kämpft, sieht sich unmittelbar bedroht.

Die Terroristen von New York und Washington haben dem amerikanischen Präsidenten und seinen forschen Ratgebern vor Augen geführt, wie unsinnig es ist, den „Krieg der Sterne“, ein Raketen-Abwehr-System im Weltraum aufzubauen, wo die Kaperung von ein paar gewöhnlichen Verkehrsmaschinen ausreicht, um Amerika im Kern zu treffen, sämtliche Ministerien lahm zu legen und einen Teil Manhattans in eine Trümmerhalde zu verwandeln. Es geht eine geradezu biblische Symbolik von dieser entsetzlichen Schicksalswende aus.

ARMES REICHES AFGHANISTAN
Aufstand gegen die Weltmächte

Von Christoph Schult QUELLE SPIEGEL ONLINE

Jahrzehntelang benutzten die Großmächte die Afghanen für ihre Geopolitik. Dass Osama Bin Laden dabei zur Schlüsselfigur einer islamistischen Terror-Internationale aufstieg, war kein Zufall.

Aus Angst vor US-amerikanischen Vergeltungsschlägen flüchten Tausende Afghanen
Berlin - Der Tod steckte in der Kamera. Es sollte ein Interview werden, wie es Ahmed Schah Massud schon hundertmal gegeben hatte. Aber die algerischen Journalisten, die den Führer der Rebellen gegen das Taliban-Regime in seinem Versteck im Norden Afghanistans besuchten, waren nicht die Reporter, als die sie sich ausgaben.

In ihrer Fernsehkamera steckte eine Bombe, die Explosion tötete Massud. Die Attentäter wussten, dass sie den Anschlag nicht überleben würden. Einer starb durch die Detonation, der zweite wurde von Massuds Leibwächtern erschossen. Es war Sonntag, der 9. September 2001, und die meisten Kenner der afghanischen Politik hatten sofort einen möglichen Anstifter für das Attentat im Verdacht: Osama Bin Laden.

Zwei Tage später stürzten Selbstmordattentäter drei Flugzeuge auf New York und Washington und wieder nannten Fachleute denselben Hauptverdächtigen: Osama Bin Laden. Wahrscheinlicher Aufenthaltsort: das Kandahar-Gebirge im Süden Afghanistans.

Osama Bin Laden
Die Koinzidenz der Ereignisse und die Hinweise auf den gleichen Urheber werfen ein grelles Licht auf das große Verhängnis Afghanistans: Ausgebeutet von der Kolonialmacht Großbritannien, gedemütigt von russischen Besetzern, zerstört von kriegslüsternen Stammesfürsten und schließlich erobert von fanatischen im benachbarten Pakistan ausgebildeten Islamisten steht das bitterarme Gebirgsland heute im Brennpunkt des blutigen Konfliktes zwischen den Groß- und Supermächten und einem global operierenden Terror-Netzwerk, dass der halben Welt im Namen Allahs den Krieg erklärt hat.

Dass Bin Laden den Angelpunkt der aktuellen Eskalation darstellt, ist dabei keineswegs Zufall. Der reiche saudische Erbe und skrupellose Fanatiker ist genau jene Schlüsselfigur, die wie keine andere die verhängnisvolle Verstrickung Afghanistans in die Weltpolitik dokumentiert. Der Einfluß Bin Ladens und seiner Anhänger ist nicht zuletzt auch ein Ergebnis der Politk der Supermächte, die während des Kalten Krieges das Volk der Afghanen für ihre Zwecke instrumentalisierten.

Die Saudis schickten das Geld, die CIA die Waffen

Der Kampf um Afghanistan begann in jenem Jahr, als im Nachbarland Iran der Ajatollah Chomeini gegen den Schah putschte und den islamischen Staat ausrief: 1979 marschierten die Sowjets in das Gebirgsland am Hindukusch ein, um eine Ausbreitung islamistischer Mächte am Südrand ihres Imperiums zu verhindern. Sie installierten eine Marionetten-Regierung und provozierten so den Widerstand der islamischen Mudschahidin, die in der gesamten arabischen Welt Unterstützung fanden. Die Saudis schickten das Geld, die CIA die Waffen - da musste fast zwangsläufig eine islamistische Internationale entstehen.

Die Frauen dürfen nur verschleiert auf die Straße
Zehn Jahre später mussten sich die Russen schmachvoll zurückziehen. Doch nun waren viele Afghanen militarisiert. Unter den Gotteskriegern entbrannte der Kampf um die Macht. Sieger wurden ausgerechnet die anfänglich nur belächelten militanten Koranschüler aus Pakistan, die sich selbst den Namen "Taliban" (Schüler) gaben. Sie schossen Afghanistan zurück in die Steinzeit.

Der Bürgerkrieg hat nahezu alle Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Wie Zahnstümpfe ragen die Ruinen in den Himmel. Auf den Straßen patrouillieren die Männer des "Ministeriums zur Vermeidung des Lasters und zur Förderung der Tugend" mit Kalaschnikows. Frauen sind in ihrem Schleier gefangen. Nicht mal ihr Gesicht dürfen sie zeigen. Durch ein Netz aus Maschen spähen sie in eine Welt aus Lumpen und Bettlern.

Gold, Pistazien und Weintrauben

Dabei könnte Afghanistan ein blühendes Land sein. Zwar ist ein Großteil des Gebietes landwirtschaftlich nur schwer nutzbar, trotzdem waren Pistazien und Weintrauben in den siebziger Jahren die Hauptexportartikel. Und im Boden schlummern ungehobene Schätze: Große Mengen Kupfer, Gold, Erdöl und Erdgas könnten die Bevölkerung schnell zu Wohlstand bringen.

Keine Musik, kein Fernsehen: Ein afghanischer Junge schaut auf einen Pfahl mit Bändern zerstörter Video- und Musikkassetten
Noch in den sechziger Jahren schien die Entwicklung auf bestem Wege. Unter König Mohammed Sahir Schah erlebte das Land eine regelrechte Blütezeit. 1933 auf den Thron gekommen, gelang es ihm 40 Jahre lang das Konglomerat aus 50 ethnischen Gruppen und 20 Sprachen einigermaßen friedlich zusammenzuhalten. Mit Hilfe sowjetischer Investitionen förderte er die Kultur und brachte dem Land bescheidenen Wohlstand und Bildung.

Bei manchen seinen Untertanen weckte der liberale König einen so starken Drang nach mehr Demokratie, dass sein Schwager Daud Khan ihn 1973 stürzte und die Republik ausrief. Doch Daud ging zu weit. Er sagte der Loya Jirga, der Ältestenversammlung der Stämme, den Kampf an und legte damit Hand an eine kulturelle Wurzel des Landes. Die Zwangsmodernisierung provozierte – ganz ähnlich wie im Iran unter dem westlich orientierten Schah - wütenden Widerstand.

Das Grundmuster des kommenden Konflikts war damit schon gelegt – Traditionalisten, verwurzelt in der Stammeskultur, kämpften gegen Modernisten, denen ihre Gegner Verrat zugunsten äußerer Mächte vorwarfen. Die folgenden Wirren bahnten den sowjetischen Besatzern den Weg, die das Land in den Bürgerkrieg trieben, aus denen die Taliban 1996 als Sieger hervorgingen.


 

 

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