Tokio-Konferenz für den Wiederaufbau Afghanistans hat alle Erwartungen übertroffen | |
Wieczorek-Zeul:
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Deutschlandfunk/21.01.02
Interview zum Beginn der internationalen Geberkonferenz für Afghanistan in Tokio
Frage (Stefan Heinlein): Wird Ministerpräsident Karsai Tokio mit vollen Taschen verlassen?
Antwort: Das klingt vielleicht etwas merkwürdig, aber jedenfalls wird er davon ausgehen
können, dass die Zusagen eingehalten werden, und die Zusagen basieren immer noch auf
den Ergebnissen der Petersberg-Konferenz. Es geht ja darum, mit dazu beizutragen, dass
durch den Wiederaufbau auch der politische Prozess, der Friedensprozess vorankommt. Es
ist heute sehr deutlich geworden, dass es dieses Engagement der internationalen
Gemeinschaft gibt. Es geht vor allen Dingen um zwei Punkte, und das wird vielleicht
manchmal etwas miteinander verwechselt. Das eine ist, was kurzfristig notwendig ist. Wenn
die Leute in Afghanistan selbst den Eindruck gewönnen, dass sich, nachdem die Taliban
vertrieben worden sind, für sie gar nichts ändert unmittelbar, das wäre einfach für das
Verhältnis zu ihrer Übergangsregierung eine ganz fatale Sache... Es geht darum, dass die
Verwaltung überhaupt aufgebaut werden kann. Die Frauenministerin ist dabei, sich
Mitarbeiterinnen zu suchen. Man muss daran denken: Die Übergangsregierung hat nur die
sechs Monate Zeit; von diesen sechs Monaten ist sie bereits einen Monat im Amt. Das ist
das eine, und natürlich dass die Schulen einigermaßen so sind, dass die vielen Kinder, die
zurückkommen wollen, wirklich in die Schule gehen können... Da kann man sehr schnell
etwas machen, da sind wir als Bundesregierung ganz aktiv beteiligt.
Frage: Gerade die ... finanziellen Soforthilfen lassen zu wünschen übrig... Wann wird aus
diesem Rinnsal endlich ein Fluss an Geldern?
Antwort: Das ist nicht ganz richtig, das war nur in der Bundesrepublik etwas falsch
angekommen. Wir haben zum Beispiel unsere Beiträge bezahlt, viele andere auch. Die
Schwierigkeit war, dass die UN-Organisation, die das Geld nach Afghanistan unmittelbar
transferieren sollte, das natürlich nicht überweisen konnte, weil es bei der afghanischen
Nationalbank die Voraussetzungen noch nicht gab. Die haben heute geschildert, dass das
Geld in bar ins Land transferiert worden ist und insofern dieses Versprechen eingelöst
worden ist. Aber das wird durchaus für diese kurzfristigen Aufgaben noch viel Engagement
erfordern. Das zweite, dass es natürlich auch das langfristige Engagement geben muss beim
wirtschaftlichen Wiederaufbau, beim Aufbau des eigenen Steuer- und Finanzsystems oder
auch der Nationalbank. Da hat Karsai heute, denke ich, deutlich gemacht, dass sie ihre
eigenen Pläne haben, die mir jedenfalls sehr eingeleuchtet haben.
Frage: Kommen denn die von Karsai geforderten 1,8 Milliarden US-Dollar für die finanzielle
Soforthilfe jetzt in Tokio zustande?
Antwort: ... Die Weltbank hat gesagt, im ersten Jahr sind etwa 1,7 Milliarden US-Dollar
notwendig. Ich glaube, dass die Konferenz ihre Verpflichtungen erfüllen wird und dass das
auch ein Erfolg für Hamid Karsai, für die Interimsregierung in Afghanistan und eben auch ein
Erfolg für die internationale Gemeinschaft sein wird...
Frage: Rund 80 Millionen Euro, so haben Sie angekündigt, will die Bundesregierung in
diesem Jahr an Soforthilfe leisten. Bleibt es bei dieser Summe, oder kann sie noch erhöht
werden?.Antwort: Wir haben schon im letzten Jahr angekündigt gehabt, dass wir 80 Millionen Euro in
diesem Jahr zum Wiederaufbau in Afghanistan zur Verfügung stellen mit dem Schwerpunkt,
den ich vorhin genannt habe, vor allen Dingen auch, um dazu beizutragen, dass eben die
Frauen stärker wieder einbezogen werden und ihre Entrechtung beseitigt wird. Wir haben
gesagt, wir sind politisch bereit für die nächsten vier Jahre, es geht ja auch eben um
langfristige Zusagen, 320 insgesamt, also vier mal 80 Millionen Euro zur Verfügung zu
stellen und damit auch deutlich zu machen, dass wir langfristig engagiert bleiben wollen. Das
ist immer wieder das bange Fragen aller Beteiligten in Afghanistan, dass sie sagen: Werdet
ihr, wenn wir aus dem Scheinwerferlicht heraus sind, auch noch bei uns bleiben? Karsai hat
das in seinem SPIEGEL-Interview deutlich gemacht, als er gesagt hat: Lasst uns nicht im
Stich. Da sind wir auch verpflichtet.
Frage: Diese gut 300 Millionen Euro über vier Jahre verteilt ... wurden von Lamers in einem
Interview als viel zu niedrig kritisiert. Warum ist die Bundesregierung so knausrig?
Antwort: Ich muss sagen, wenn ich andere Zusagen aus der Konferenz heute vergleiche,
dann stehen wir sehr gut da. Wir sind ja auch im Übrigen über den Einsatz der Bundeswehr
engagiert. Ich glaube, man muss sehr genau sehen: Wird das, was jetzt an Zusagen
existiert, auch mit den anderen Gebern gut koordiniert, damit nicht manche manches doppelt
machen? Wir finanzieren im Übrigen auch über unsere Mitgliedschaft bei der EU die
Finanzierung der EU-Kommission mit. Die EU-Kommission hat 200 Millionen Euro zugesagt.
Wer Sorge hätte, das wäre zu wenig, der kann wirklich beruhigt sein...
Frage: Eine andere Sorge ist ja, dass die Hilfsgelder versickern könnten und nicht
zielgerichtet eingesetzt werden. Können Sie uns diese Sorge nehmen?
Antwort: Deshalb habe ich eben gesagt, erstens geht es uns darum, dass wir auch einen
Großteil der Arbeit, die wir als Bundesregierung machen, die Entwicklungszusammenarbeit,
mit unseren bewährten Institutionen, GTZ, Kreditanstalt für Wiederaufbau, machen, die
einfach ihre Instrumente haben, wo wir auch eben die Projekte selber sehen und die
Menschen die Projekte selber sehen, zum Beispiel den Aufbau der Schulen oder die
Verbesserung des Zugangs zu sauberem Trinkwasser etwa. Deshalb sind wir vielleicht
zurückhaltender als der Eine oder Andere. Es gibt auch Mitgliedsländer, die stellen praktisch
ihre gesamten Leistungen einem Fonds zur Verfügung, dem Fonds von Weltbank und
UNDP. Wir werden einen Teil zur Verfügung stellen, aber einen Großteil auch in bilateraler
Zusammenarbeit leisten.
Frage: Sie haben heute Karsai in Tokio erlebt. Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?
Antwort: ... Er macht mir erstens einen sehr professionellen Eindruck und aber auch einen
Eindruck der Verlässlichkeit, und ich hoffe, dass er Erfolg hat.
Der Beitrag Deutschlands zum Wiederaufbau und Entwicklung von
Afghanistan
Tokio 20. - 22. Januar 2002.
22
1. Vorbemerkung
Nach Schätzungen von Weltbank, Vereinten Nationen und ADB sind über die nächsten 10
Jahre rund 15 Mrd. Euro notwendig, um zum Wiederaufbau Afghanistans beizutragen und
die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklung zu unterstützen. Dies bedeutet,
dass es der internationalen Gebergemeinschaft in einer erheblichen Kraftanstrengung
gelingen muss, vor allem in den anfänglichen schwierigen Jahren des Neubeginns hohe
Ressourcen zu mobilisieren.
Deutschland ist bereit, sich hieran angemessen zu beteiligen. Dabei bekennt Deutschland
sich zum Prinzip einer engen internationalen Abstimmung der Entwicklungszusammenarbeit
für Afghanistan unter Führung von Weltbank und Vereinten Nationen und unterstützt die drei
wichtigsten Koordinierungsinstrumente:
den UNDP Afghan Interim Administration Fund zur Finanzierung der essentiellen
Tätigkeit der Übergangsverwaltung in den ersten 6 Monaten;
den internationalen, von Weltbank, UNDP und ADB verwalteten Wiederaufbau-
Treuhandfonds zur Finanzierung prioritärer Investitionen, zur teilweisen Finanzierung
laufender Kosten der Übergangsverwaltung sowie der künftigen Regierung und zur
Abdeckung ansonsten nicht gedeckter wichtiger Investitionen;
den international zu vereinbarenden —Comprehensive Reconstruction and Refugee
Framework— als wichtigstes Instrument zur Koordinierung und Abstimmung bilateral
finanzierter und durchgeführter Maßnahmen.
Der Beitrag Deutschlands zum Wiederaufbau und zur Entwicklung Afghanistans wird sich
darüber hinaus einbinden in den Gesamtbeitrag der Europäischen Union zur Unterstützung
Afghanistans.
Das vorliegende Papier ist ein Beitrag Deutschlands zur Abstimmung der internationalen
Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der Geberkonferenz vom 21. - 22. Januar 2002 in
Tokyo. Die im folgenden erläuterten Schwerpunkte des deutschen Beitrags sind offen für
eine Überprüfung im Zuge weiterer Abstimmungen mit den afghanischen Partnern, unter
Berücksichtigung der Beiträge anderer Geber, und hier insbesondere der Europäischen
Kommission und der EU Mitgliedstaaten, sowie weiterer Erkenntnisse im Rahmen des von
Weltbank, Vereinte Nationen und ADB erstellten —Preliminary Needs Assessment for
Recovery and Reconstruction— sowie des international zu vereinbarenden.3
3
Wiederaufbaurahmens. Darüber hinaus würde Deutschland eine Arbeitsteilung mit anderen
Gebern im Rahmen konkreter Projekte begrüßen.
2. Deutsche Beziehungen zu Afghanistan
Deutschland war in den sechziger und siebziger Jahren drittgrößter bilateraler Geber von
Entwicklungszusammenarbeit für Afghanistan (Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung,
Landwirtschaft, Infrastruktur, zeitweise über 200 deutsche Experten und Entwicklungshelfer)
war. Insgesamt hat Deutschland seit der Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit bis
zur Besetzung des Landes im Jahr 1979 knapp 360 Mio. Euro an EZ-Mitteln bereitgestellt.
In Kabul gab es bis Ende der siebziger Jahre eine deutsche Oberschule und Tausende von
Afghanen haben aufgrund von Hochschulpartnerschaften in Deutschland studiert.
Dieser besondere Hintergrund und das flexible deutsche entwicklungspolitische
Instrumentarium sind eine für beide Seiten vorzügliche Grundlage für eine
Zusammenarbeit bei der Nothilfe und beim Wiederaufbau Afghanistans.
3. Grundorientierungen und Prinzipien der deutschen Unterstützung
Deutschland verfügt über umfangreiche Erfahrungen sowie spezialisierte Instrumente in
allen Bereichen der humanitären Hilfe, entwicklungsorientierten Nothilfe, sowie bei
Wiederaufbau und Entwicklung. Die Ausnahmesituation Afghanistans erfordert allerdings,
dass zügige Unterstützung in allen Bereichen parallel und koordiniert ansetzen muss.
Deutschland wird daher sein Instrumentarium rasch, wirksam und in enger Abstimmung und
Arbeitsteilung mit der Gebergemeinschaft in verschiedenen Bereichen einsetzen. Im
Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hat Afghanistan den Status eines
—Schwerpunktpartner-landes—. Dies heißt, dass künftige bilaterale
Entwicklungszusammenarbeit sich auf drei Schwerpunktbereiche konzentrieren wird.
Daneben wird Deutschland nicht-staatliche Entwicklungszusammenarbeit einer Vielzahl
deutscher und anderer Träger in verschiedenen Bereichen umfassend unterstützen.
Deutschland hat sich darüber hinaus im Rahmen der internationalen Abstimmungsprozesse
(und hier insbesondere im Rahmen der Gründungskonferenz für die Steering Group in
Washington) für die Beachtung grundlegender Prinzipien der internationalen
Unterstützung eingesetzt:.4
4
führende Rolle der afghanischen Partner im Wiederaufbau- und Entwicklungsprozess;
führende Rolle von Weltbank und Vereinten Nationen bei der Koordinierung von
Wiederaufbau und Entwicklung;
regionale und ethnische Ausgewogenheit der internationalen Unterstützung;
Nutzung des Potentials afghanischer und internationaler Nichtregierungsorganisationen;
enge internationale Koordinierung;
besondere Unterstützung der Beteiligung von Frauen und Jugendlichen bei
Wiederaufbau und Entwicklung Afghanistans;
die Vereinbarung und Umsetzung eines —Code of Conduct— bei der Rekrutierung der
afghanischen Mitarbeiter
Nutzung des besonderen Potentials der afghanischen Diaspora durch möglichst
weitgehende Integration von Exil-Afghanen in den Wiederaufbau-Prozess.
4. Prioritäten und Instrumente
Zur raschen Vorbereitung und Koordinierung seiner Unterstützung hat Deutschland die
erforderlichen personellen und institutionellen Maßnahmen ergriffen durch
Ernennung eines Sonderbotschafters für Afghanistan und Errichtung eines Sonderstabs
Afghanistan im Auswärtigen Amt
Ernennung eines Sonderbeauftragten für den Wiederaufbau Afghanistans im
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
Einrichtung einer Arbeitsgruppe Wiederaufbau Afghanistan im BMZ (unter Beteiligung
von KfW und GTZ)
Entsendung von Referentinnen zur Koordinierung der humanitären und der
Wiederaufbauhilfe an die deutsche Botschaft Kabul
Eröffnung eines gemeinsamen Büros GTZ-KfW in Kabul.
Als sofort wirksame Hilfe unterstützt Deutschland Programme im Rahmen der humanitären
Hilfe und der
Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe.Der Humanitäre Soforthilfe, die darauf abzielt, den notleidenden Menschen das
unmittelbare Überleben zu ermöglichen, kommt für absehbare Zeit im Maßnahmenpaket der
Bundesregierung hohe Priorität zu. Deutschland hat 2001 bereits 22 Mio. Euro an bilateraler
Soforthilfe für Afghanistan geleistet. Im Jahre 2002 sind dafür weitere Mittel eingeplant..5
5
Diese sind vorrangig bestimmt für Basisgesundheitsversorgung, Wiederinstandsetzung von
Unterkünften für Flüchtlinge und Vertriebene, Ergänzungsnahrungsmittel und Verbesserung
der Trinkwasserversorgung. Dringend notwendige Voraussetzung für den Wiederaufbau und
die Rückführung von Flüchtlingen und Vertriebenen ist ferner die Verminderung der Gefahr
durch Minen und nicht explodierte Munition. Deutschland sieht auch Mittel für humanitäres
Minenräumen einschließlich der Aufklärung der Bevölkerung über Minengefahren (Mine
Awareness) und Minenopferfürsorge vor.
Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe
schließt die Lücke zwischen der noch währenddes Taliban Regimes geleisteten humanitären Soforthilfe, die von allen Gebern zusammen
bereits 200-300 Mio. USD pro Jahr umfaßte und in deren Rahmen Deutschland allein 2001
28 Mio. Euro bereitstellte, und längerfristigen nachhaltigen Entwicklungsvorhaben. Sie hat
den Vorteil, dass sie unmittelbar bei der Notlage einsetzt und nicht langfristiger
administrativer Vorbereitungen (z.B. Studien, Regierungsabkommen, Projektvereinbarungen
durch Notenwechsel) bedarf. Damit kann nicht nur die Ernährung hungernder Menschen
durch die Bereitstellung von Nahrungsmitteln gesichert sondern auch die soziale und
infrastrukturelle Mindestversorgung für die notleidende Bevölkerung geschaffen oder wieder
hergestellt werden. In dieser ersten Phase sollen Beiträge zur Sicherung der
Trinkwasse
rversorgung v.a. auf dem Land und die Wiederaufnahme bzw. Verbesserungvon sozialen Diensten (Gesundheit, Bildung) geleistet werden, unter besonderer
Berücksichtigung von Frauen und Kindern. Gleichzeitig wird Unterstützung bereitgestellt zur
Ernährungssicherung, wie etwa durch die Lieferung von Saatgut, Nahrungsmitteln, und die
Rehabilitierung ländlicher Bewässerungssysteme. Diese Maßnahmen werden durch die
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Nichtregierungsorganisationen und das
Welternährungsprogramm (WFP) umgesetzt.
Während der Übergang von der humanitären Hilfe zur entwicklungsorientierten Nothilfe
(EON) fließend und weitgehend parallel erfolgen kann, bedarf die Überleitung in die
mittelfristige reguläre EZ
gründlicher planerischer Vorbereitung. Die Nutzung vonErfahrungen beim Wiederaufbau in anderen Regionen hat aber gezeigt, dass auch hier im
Rahmen von offenen Programmen und Soforthilfemaßnahmen schnell reagiert werden kann.
Hier soll die dringende Rehabilitierung der Trinkwasserver- und -entsorgung in den Städten
und die Wiederaufnahme von sozialen Diensten (wie Basisgesundheitsstationen und
Schulen)
geleistet werden. Hierzu sind bereits vorbereitende Maßnahmen eingeleitet durchdie unverzügliche Entsendung von Expertenmissionen der GTZ und der KfW schon im
November 2001 bzw. Januar 2002..6
6
Ansatzpunkte
der deutschen Unterstützung werden nachhaltige und längerfristige Projektezunächst in den Sektoren (Basis) Gesundheit, (Grund) Bildung, Aufbau rechtsstaatlicher
Strukturen, Aufbau der Privatwirtschaft und Förderung der Zivilgesellschaft sein, mit der
Perspektive einer mittelfristigen Konzentration auf drei Schwerpunktbereiche für die
bilaterale staatliche EZ. Als Querschnittsaufgabe wird der Aspekt der Unterstützung der
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe von Frauen am
Entwicklungsprozess besonders beachtet werden, da durch die einseitige Interpretation des
Islam durch das Talibanregime Frauen in der Vergangenheit stark benachteiligt wurden und
hohen partizipativen Nachholbedarf haben. Darüber hinaus soll das Potential
rückkehrwilliger Exil-Afghanen und Afghaninnen für den Wiederaufbauprozess genutzt
werden.
Ferner wird Deutschland Unterstützung gewähren bei der Bekämpfung der internationalen
Kriminalität, und hier insbesondere des Drogenhandels.
5. Direkte Beiträge Deutschlands zum internationalen Wiederaufbauprogramm
Deutschland wird seine direkten Beiträge zum internationalen Wiederaufbau Afghanistans
auf Grundlage des von Weltbank, Vereinte Nationen und ADB vorgelegten —Preliminary
Needs Assessment for Recovery and Reconstruction— leisten. Es ist beabsichtigt,
Programme insbesondere in den folgenden Sektoren zu finanzieren und durchzuführen:
Gesundheit und Trinkwasserversorgung
Ein besonders dringlicher Unterstützungsbedarf besteht im Bereich Gesundheit, der auch
den Zugang zu frischem Wasser umfasst. Bereits vor den kriegerischen
Auseinandersetzungen war der Gesundheitssektor Afghanistans in schlechtem Zustand.
Zuletzt wurde das Land als 169stes von 175 im Human Development Report geführt. Ein
angemessene Gesundheitsversorgung ist bei einer Gesundheitseinrichtung pro 100.000
Einwohner nicht gegeben. Die Kindersterblichkeit liegt lt. Weltbank mit geschätzten 165 pro
1000 Geburten weltweit an der Spitze. 257 pro 1000 (d.h. mehr als ein Viertel!) Kinder
sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Die Schwangerschaftstodesrate liegt bei 1.700 pro
100.000 Geburten, wobei bei nur 9% aller Geburten qualifiziertes Personal anwesend ist.
Die Lebenserwartung liegt bei nur 40 Jahren. Auch die Lage bei der Versorgung mit
Trinkwasser ist alarmierend: Nur 19 % der Bevölkerung in städtischen Gebieten haben
Zugang zu sauberem Wasser. In ländlichen Regionen liegt die Zahl noch niedriger. Diese
Zahlen sind - zumal bei der hohen Bevölkerungswachstumsrate von über 3% - alarmierend..7
7
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird Beiträge leisten zur Wiederherstellung von
funktionieren Trinkwasserversorgungseinrichtungen v.a. in Kabul und anderen Städten des
Landes. Die geplanten baulichen Maßnahmen sollen durch die Lieferung von
Instandsetzungs- und Ersatzmaterial und die notwendige personelle Unterstützung ergänzt
werden.
Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung v.a. im Bereich der Basisgesundheit ist
prioritär. Dazu zählt die Rehabilitierung und Ausrüstung von medizinischen Einrichtungen
der untersten Versorgungsebene. Die Lieferung von Medikamenten und die Bereitstellung
von personeller Unterstützung ist im Rahmen der Programme beabsichtigt.
Grundbildung
Die Bildungseinrichtungen sind durch kriegerische Auseinandersetzungen und durch vom
Taliban-Regime politisch gewollte Vernachlässigung v.a. der Mädchenbildung in einem sehr
schlechten Zustand. Eine Schätzung der Weltbank ergibt eine Einschulungsrate von 39% für
Jungen und lediglich 3% (!) für Mädchen. Bei höheren Schulen ist das Bild noch wesentlich
schlechter. Als Ergebnis liegt der Alphabetisierungsgrad im Bildungssektor insgesamt bei
nur 31%, bei Frauen sogar bei nur bei 15% der erwachsenen Bevölkerung. Viele Schulen
sind zerstört oder durch jahrelangen Verfall baufällig. Durch die Abwanderung vornehmlich
von Akademikern und Akademikerinnen in den letzten 20 Jahren ist die Verfügbarkeit von
Lehrern und Lehrerinnen begrenzt. Die aus dem Schuldienst gedrängten Lehrerinnen
müssen wieder eingegliedert, ihre Kenntnisse wieder aufgefrischt werden. Die Ausbildung
männlicher Lehrer unter den Taliban hatte darüber hinaus eine einseitig religiös-
fundamentalistische Ausrichtung. Auch für diesen Personenkreis sind
Qualifizierungsmaßnahmen dringend erforderlich.
Vordringlichstes Ziel der von Deutschland finanzierten Programme ist die Rehabilitierung
und Instandsetzung von Schulen, die Ausstattung mit Möbeln und Unterrichtsmaterial sowie
die Entsendung und Bereitstellung von personellen Ressourcen. Durch die Entsendung von
qualifizierten integrierten Fachkräften und Entwicklungshelfern soll Afghanistan auch bei der
Schaffung der erforderlichen institutionellen Kapazitäten unterstützt werden.
Aufbau der Privatwirtschaft /Finanzsektor/Mikrobanken
Die produktiven privatwirtschaftlichen Strukturen Afghanistans sind weitgehend zerstört, der
Privatsektor konzentriert sich auf die Bereiche Handel und Tauschwirtschaft. Das
leistungsfähige Unternehmertum Afghanistans mit Gespür für marktwirtschaftliche
Entwicklungen ist während der Kriegsjahre weitgehend außer Landes gegangen. Das.8
8
Bankensystem existiert nicht mehr. Der Internationale Währungsfond hat seine Bereitschaft
bekundet, Afghanistan beim Aufbau einer zentralen monetären Institution und des
Bankensystems zu unterstützen.
Die Wiederherstellung eines funktionsfähigen Kreditsystem ist eine grundsätzliche
Voraussetzung für die Wiederbelebung produktiver privatwirtschaftlicher Aktivitäten in
Afghanistan. Deutschland beabsichtigt, durch Unterstützung beim Aufbau einer
leistungsfähigen Mikrobank hierzu einen Beitrag zu leisten. Beabsichtigt ist die Bereitstellung
der Eigenkapitals zur Ausstattung der Bank mit Hardware und dem ersten Grundstock zum
Aufbau eines Kreditportfolios. Institutionelle Unterstützung wird mit diesen Maßnahmen
einhergehen. Frauen und Jugendliche sollen als wichtige Zielgruppen in das Programm
einbezogen werden.
Aufbau staatlicher Strukturen
Nach dem Ende des Taliban Regimes und der kriegerischen Auseinandersetzungen ist die
Übergansverwaltung in einer außerordentlich schwierigen Situation. Afghanistan hat keine
Steuerbasis und kein funktionierendes Verwaltungssystem. Neben der Finanzierung der
laufenden Kosten ist der Aufbau von leistungsfähigen, effizienten und demokratisch
kontrollierten staatlichen Strukturen und Entscheidungsprozessen in allen Politikbereichen
das dringendste Anliegen. Darüber hinaus muss möglichst rasch ein leistungsfähiges
Finanzwesen (Steuern, Zoll) aufgebaut werden, damit schon die Übergangsregierung eigene
Staatseinnahmen generieren kann. Die erfolgte Beteiligung Deutschlands von 2 Mio EURO
am Afghan Interim Administration Fund zur Finanzierung der Anlaufkosten für zentrale
Regierungsaufgaben der afghanischen Übergangsregierung ist eine erster wichtiger Schritt.
Durch einen Beitrag zum internationalen Weltbank/UNDP/ADB Wiederaufbau-
Treuhandfonds soll weitere Unterstützung der staatlichen Tätigkeit gewährt werden, die
allerdings an Fortschritte bei der Umsetzung der Petersberg Vereinbarung geknüpft werden
sollte.
Gezielte bilaterale Programme zur Unterstützung spezieller Regierungs-
/Verwaltungsaufgaben, die in obengenannte Maßnahmen eingebettet sind, sind in
Vorbereitung und sollen schnellstmöglich mit den afghanischen Partnern vereinbart werden.
Demobilisierung / Förderung der Zivilgesellschaft / Rechtsstaatlichkeit
Afghanistan ist seit Jahrzehnten durch Krieg und Bürgerkrieg durch geprägt. Eine zentrale
Aufgabe ist deshalb die Entmilitarisierung und Zivilisierung der afghanischen Gesellschaft.
Dies umfaßt nicht nur Demobilisierung und Vernichtung insbes. von Kleinwaffen, sondern
auch den Wiederaufbau zivilgesellschaftlicher Fähigkeiten, friedlicher Konfliktbearbeitung
und den Aufbau einer demokratischen und rechtsstaatlichen Struktur zur Steuerung und.9
9
Kontrolle des Sicherheitssektors sowie die Förderung rechtsstaatlichen Denkens in den
Sicherheitskräften. Deutschland ist bereit, durch bilaterale und multilaterale Beiträge die
Reform des Sicherheitssektors und die Kontrolle von Kleinwaffen sowie Projekte zur
Förderung der Menschenrechte und Stärkung der Demokratisierung zu unterstützen. Es wird
der Betreuung und Reintegration traumatisierter Frauen und Kinder, insbesondere auch von
Kindersoldaten auch durch nichtstaatliche Maßnahmen besondere Beachtung schenken. Zur
Stärkung von Selbsthilfekräften und Zivilgesellschaft, von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit sowie von ziviler Konfliktbearbeitung und Medien wird Deutschland die
Arbeit von Politischen Stiftungen, Entwicklungshelfern und Friedensfachräften des Zivilen
Friedensdienst (ZFD) fördern. Vor dem Hintergrund der langjährigen Konflikte in Afghanistan
sind bei der Durchführung sämtlicher Maßnahmen die Wirkungen auf die Strukturen einer
traditionellen Gesellschaft sorgfältig zu beachten.
Im Abkommen von Petersberg (—Agreement on Provisional Arrangements in Afghanistan and
Pending the Re-establishment of Permanent Government Institutions—) wird der Schaffung
von rechtlichen Rahmenbedingungen (an erster Stelle der Schaffung einer neuen
afghanischen Verfassung) und dem Aufbau des Justizsystems eine wichtige Rolle
zuerkannt. Neue rechtliche Normen können aber nur umgesetzt werden, wenn mittel- bis
langfristig eine unabhängige afghanische Justiz mit den dazu erforderlichen Institutionen
aufgebaut werden kann, die für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich. Deutschland ist
bereit, sich an entsprechenden Programmen zu beteiligen.
Frauen
Frauen wurden durch die Taliban systematisch entrechtet und diskriminiert. Andererseits
mussten sie in der Situation des Bürgerkrieges nicht nur beträchtliche Lasten übernehmen,
sondern auch neue gesellschaftliche Rollen. Heute besteht nicht nur die Notwendigkeit,
sondern es bietet sich auch eine historische Chance, das grosse Potential der afghanischen
Frauen in den Wiederaufbau- und Entwicklungsprozess Afghanistans einzubringen. Frauen,
die in Afghanistan nie an Kriegshandlungen teilgenommen haben, sind in einer besonders
günstigen Position, um als Motor des Friedensprozesses zu wirken.
Im Rahmen des deutschen Unterstützungsprogramms wird der Förderung von Frauen als
Querschnittsaufgabe besondere Bedeutung zukommen. Darüber hinaus ist beabsichtigt,
Frauen durch gezielte Maßnahmen zu fördern. Hierzu sind Programme beabsichtigt in
Bereichen wie berufliche Re-Qualifizierung, Aufbau eines Rechtsberatungszentrums sowie
direkte Unterstützung wirtschaftlicher Aktivitäten im Rahmen eines Kleinprojektefonds..10
10
Rückkehrerprogramm
Insgesamt 5 Millionen Afghanen haben ihr Land verlassen und leben unter schwierigsten
Bedingungen in den Nachbarländern Afghanistans (Iran 2 Mio, Pakistan 3 Mio). Die
Leistungen der aufnehmenden Nachbarstaaten werden von Deutschland hoch anerkannt.
Deutschland wird seine Unterstützung für Flüchtlinge im Rahmen internationaler
Hilfsprogramme auch künftig fortsetzen. Wichtig ist aber, das menschliche Potential der
Vertriebenen und Flüchtlinge für den Wiederaufbauprozess Afghanistans zu nutzen.
Deutschland wird daher vor allem auch entsprechende Rückkehrprogramme, die vorrangig
die Beschäftigung fördern, unterstützen.
Die Nutzung des Potentials im Ausland lebender Afghanen und Afghaninnen gilt auch für die
rund 90.000, die in Deutschland leben Œ hier bieten sich aufgrund ihres hohen
Ausbildungsstandes besondere Ansatzpunkte. Deutschland beabsichtigt, dieses Potential zu
nutzen und bereitet ein entsprechendes Programm vor, rückkehrende Fachkräfte bei der
Arbeitsaufnahme bzw. der Existenzgründung zu unterstützen.
Aufbau von Polizeistrukturen und Kampf gegen Drogenanbau
Grundvoraussetzung nachhaltiger Entwicklung ist die Wiederherstellung innerer Sicherheit
gemäss der Petersberg-Vereinbarungen. Deutschland ist bereit, beim Aufbau der
afghanischen Polizei besondere Verantwortung zu übernehmen. Eine Expertenmission zur
Vorbereitung der Maßnahmen ist für die zweite Januarhälfte vorgesehen. In der
gegenwärtigen Situation kann sich die Aufbauhilfe zunächst nur auf die Region um Kabul
konzentrieren. Inhaltlicher Schwerpunkt wird voraussichtlich der Ausbildungsbereich
(insbesonders Ausbildung der Ausbilder und Führungskräfte) sein, ergänzt durch
begleitende Ausstattungsleistungen. Die Bundesregierung wird alle weiteren Schritte eng mit
den Vereinten Nationen abstimmen und bei der Ausbildung besonderen Wert auf die
Aspekte der Menschenrechte und Drogenbekämpfung legen.
Die Bundesregierung hat mit Besorgnis Berichte zur Kenntnis genommen, denen zufolge der
Opiumanbau in Afghanistan, der in der Vergangenheit für bis zu 80% der
Weltmohnproduktion verantwortlich war, wieder aufgenommen wurde. Sie verbindet mit der
Leistung von Wiederaufbauhilfe die Erwartung, dass die Interimsadministration wirksame
Kontrollmechanismen ergreift und einen Anbaustopp durchsetzt. Dies gebietet nicht nur das
Eigeninteresse der Geberländer, sondern auch die Tatsache, dass die mit der
Wiederaufbauhilfe angestrebte Stabilisierung und rechtsstaatliche Entwicklung des Landes
nicht erreicht werden kann, wenn die wirtschaftliche Aktivität zu einem erheblichen Teil auf
einer kriminellen Basis gründet. Die Bundesregierung ist bereit, Maßnahmen im Bereich der.11
11
Drogenkontrolle (law enforcement) zu unterstützen, die in engem Zusammenhang mit der
oben genannten Hilfe beim Aufbau der afghanischen Polizei konzipiert sein werden.
6. Unterstützung internationaler Programme
Planungs- und Durchführungskapazitäten in Afghanistan werden auf mittlere Sicht begrenzt
sein. Andererseits erfordert die Not der betroffenen Menschen ein rasches und effektives
Handeln, um zumindest die grundlegende Versorgung sicherzustellen und die
Basisinfrastruktur wieder aufzubauen. Es kommt daher wesentlich darauf an, die
Unterstützungsleistungen der Gebergemeinschaft zusammenzuführen und wirksam zu
koordinieren.
Deutschland wird seine Maßnahmen daher nicht nur in den internationalen
Wiederaufbaurahmen einbinden, sondern auch direkt zu international vereinbarten und
durchgeführten Programmen beitragen.
Die Bundesregierung hat nicht nur einen Beitrag zum Afghan Interim Administration Fund
des UNDP in Höhe von 2 Mio. Euro geleistet, sondern wird sich auch am internationalen
Wiederaufbau-Treuhandfonds, der von Weltbank, UNDP und ADB verwaltet wird,
beteiligen. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass möglichst viele Geber,
darunter die EU, an dem Fonds partizipieren.
Deutschland wird darüber hinaus die Aktivitäten der Sonderorganisationen der Vereinten
Nationen in Afghanistan unterstützen. Vorgesehen sind Beiträge zu:
Hilfemaßnahmen des UNHCR für Flüchtlinge und Vertriebene,
Programme der UNESCO im Bereich der Grundbildung sowie bei der Wiederherstellung
des kulturellen Erbes Afghanistans,
Maßnahmen von UNICEF zur Überlebenssicherung, —back to school campaign— sowie
bei der Re-integration von Kindersoldaten einschließlich Traumaarbeit,
Maßnahmen von UNDP/BICC im Bereich der Kleinwaffenkontrolle,
Maßnahmen von UNOCHA (in Zusammenarbeit mit MAPA) beim Räumen von Minen,
Programmen von UNDCP zur Drogenbekämpfung
Programmen des WFP der Ernährungssicherung und Rehabilitierung
Weitere Informationen
- Der Beitrag Deutschlands zum Wiederaufbau und Entwicklung von Afghanistan, Tokio 20.-22.01.2002 (Langfassung)
- Interview zum Beginn der internationalen Geberkonferenz für Afghanistan in Tokio
- Interview zur Wiederaufbauhilfe für Afghanistan
- AFGHANISTAN AKTUELL / Pressemitteilung vom 21. Januar 2002
Beim Wiederaufbau Afghanistans müssen auch Rückkehrer Hilfe erhalten- Beitrag der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul für die Zeitschrift "E + Z"
Thema: Reaktion der Entwicklungspolitik auf die Terroranschläge und auf den Krieg in Afghanistan- http://www.undp.org/afghanistan/ United Nations Development Programme / Afghanistan Recovery
- www.worldbank.org/af World Bank
- http://www.mofa.go.jp/ Website des Japanischen Außenministeriums